Die gewaltfreie Erringung von Indiens Unabhängigkeit gegen die mächtigste Kolonialmacht wird heute oft als ein einmaliges historisches Ereignis verbucht. Diese Ansicht ist, auch wenn berücksichtigt wird, dass alle Ereignisse vielerlei Ursachen haben, problematisch. Mohandas K. Gandhi (1869-1948) reiste durch die Kolonie „Britisch-Indien“, wurde bei den Massen beliebt und leitete sie zu Satyagraha-Aktionen (siehe unten) an, die weltweit Aufsehen erregten. Sein ehrenwerter Gesetzesbruch aus edlen Motiven gehört seit dem Salzmarsch 1930 als ziviler Ungehorsam zu klassischen Widerstandsaktivitäten – 1947 wurde Indien unabhängig, ohne Krieg.
Kwame Nkrumah (1909–1972) tat es ihm nach: Er reiste durch die Kolonie „Goldküste“, wurde bei den Massen beliebt und leitete sie nach Gandhis Vorbild zu „positiven Aktionen“ an – 1957 wurde das Land zum unabhängigen Ghana, ohne Krieg.
Dr. Martin Luther King Jr. (1929-1968) schrieb, „dass die christliche Lehre von der Liebe, wie sie durch Gandhis Methode der Gewaltfreiheit verwirklicht wird, eine der stärksten Waffen ist, die den unterdrückten Menschen in ihrem Befreiungskampf zur Verfügung steht.“ Die Bewegungen hatten häufig Erfolg. So wurde in den USA 1964 vom Parlament auf Bundesebene die gesetzliche Diskriminierung der Schwarzen aufgehoben.
Die von Dr. King und anderen angeleiteten gewaltfreien Aktionen brachten ihn und viele seiner Mitstreiter*innen wegen zivilem Ungehorsam ins Gefängnis – wie in Indien Gandhi und in Ghana Nkrumah sowie viele Männer und Frauen dort und in anderen Ländern. Auch Tote waren jeweils zu beklagen. Das oft jahrelang nötige, auch bei brutaler Unterdrückung beharrlich gewaltfrei aktive Eintreten für Gerechtigkeit führte in Lateinamerika zur Benennung der gewaltfreien Vorgehensweise als „firmeza permanente, dauerhafte Festigkeit“.
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Philippinen 1986: Würde anbieten
Auch die Philippinen machten bemerkenswert gute Erfahrungen. Die Wiener Ehrenpräsidentin des Internationalen Versöhnungsbundes Dr. Hildegard Goss-Mayr (geb. 1930) lernte von James Lawson, einem der Köpfe der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Dieser hatte in den 1950er Jahren in Indien Gandhis Streitkunst studiert. Goss-Mayr leitete auf den Philippinen seit 1984 einen gesellschaftlich-politischen, systematischen Lernprozess zu aktiv gewaltfreiem Vorgehen an. Sie betont die Kraft der Gewaltfreiheit, nennt sie auch Gütekraft. Gütekräftige Haltung und Methoden wurden in Seminaren für Multiplikator*innen und von einer neuen Organisation durch die Zeitschrift Alay Dangal (Würde anbieten) unter diktatur-kritischen Gruppen wie Gewerkschaften, Studierenden- und Bauernverbänden und in der Kirche (sie spielte eine wichtige Rolle) bekannt gemacht und eingeübt. Die gewaltfreie Bewegung beendete am 24. Februar 1986 die Marcos-Diktatur. Das war weltgeschichtlich neu: die systematische Vorbereitung, die die Beendigung der Diktatur ermöglichte.
Die gewaltfreie Streitkunst wird auf den Philippinen „Würde anbieten“ genannt: Im Bewusstsein der eigenen Würde und innerer Stärke bieten die Engagierten denen, die Unrecht unterstützen, an, sich würdig zu verhalten. Sie sprechen die allgemein-menschliche Neigung zum Gutestun in ihnen an und fordern sie heraus, etwa als Soldaten das Diktatur-Unrecht nicht mehr zu stützen und darum nicht gegen Demonstrierende vorzugehen: Im Gegner auch das Gute sehen – und ansprechen! So entstand 1986 auf den Philippinen „People Power“. Die Bewegung rang die Militärmacht nieder, ohne Krieg.
Nepal 2006
In Nepal löste 1996 die Kommunistische Partei Nepals mit einem Bauernaufstand einen Bürgerkrieg aus, um die Monarchie abzuschaffen. Tausende starben in verbissenem Kämpfen. Die Zivilbevölkerung beendete das Töten nach zehn Jahren innerhalb weniger Monate durch einen zweiwöchigen gewaltfreien Generalstreik, der zu Verhandlungen, Wahlen und schließlich zur Etablierung der Republik durch eine neue Verfassung führte.
Unabhängigkeit der baltischen Staaten durch aktive Gewaltfreiheit
Estland, Lettland und Litauen wurden 1940 von der Sowjetunion militärisch besetzt und annektiert. 1988 sangen dort Hunderttausende in Versammlungen verbotene patriotische Lieder. Sie bildeten eine 600 Kilometer lange Menschenkette. Als sie sich nach Volksabstimmungen mit großer Mehrheit für unabhängig erklärten, fuhren 1990 in Litauen sowjetische Panzer auf. Furchtlos stellten sich Unbewaffnete diesen entgegen, 14 von ihnen wurden überrollt oder erschossen. Doch, geopolitisch überraschend, gab es parallele Entwicklungen in anderen Ländern wie der Tschechoslowakei, Polen und der DDR und die Sowjetunion brach zusammen. Nach dem Regierungswechsel in Moskau erkannte Jelzin die baltischen Staaten 1990 an. Die „Singende Revolution“ war durch aktiv gewaltfreien Einsatz politisch erfolgreich, ohne Krieg.
Mit Gewalt – ohne Gewalt
Ganz anders gingen Algerier vor: 1954 wurde ein Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich begonnen. Dieser war zwar nach acht Jahren erfolgreich, doch laut Schätzungen starben während des Konflikts bis zu 300.000 Menschen.
Dass mit Waffengewalt große politische Veränderungen erreicht werden können, zieht sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte und wird in den Schulen gelehrt. Dass aber auch gewaltfreie Methoden – selbst gegen Bewaffnete – zu politischem Wandel führen können, ist ein geschichtlich neues Konzept.
Von Mao Zedong ist der Satz überliefert: „Politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.“ Gandhi sagte dagegen: „Die Kraft von Liebe und Mitleid ist unendlich viel größer als die Kraft von Waffen.“ Mit der „Kraft von Liebe und Mitleid“ umschrieb Gandhi seine Streitkunst Satyagraha.
Die Kraft der Gewaltfreiheit
Wer von beiden hat Recht? Was stimmt? Die Sozialwissenschaftler*innen Erica Chenoweth und Maria J. Stephan wollten es wissen. Sie untersuchten 323 Aufstände im Zeitraum von 1900-2006, die weltweit entweder mit oder ohne Waffen begonnen wurden. Ihre Forschungsfrage: Welche Vorgehensweise war wie erfolgreich? Als Erfolg wurde jeweils das Erreichen der vorher angegebenen Ziele gewertet. Was ergab die quantitative Forschung der Wissenschaftler*innen?
Die Erfolgsquote gewaltfreier Kampagnen war doppelt so hoch wie die der gewaltsamen: 53% gegenüber 26%, das heißt, drei Viertel der gewaltsamen Aufstände erreichten ihre Ziele nicht, wohl aber erlangte die Hälfte der gewaltfreien Aufstände, wofür sie sich einsetzten (Chenoweth & Stephan, 2011: „Why Civil Resistance Works”. New York: Columbia University Press).
Die Studie bekam viele Preise. Ihr Forschungsergebnis ist von historischer Bedeutung. Es verdient höchste Beachtung, denn es entzaubert eine allgemein unhinterfragte Grundannahme: Die Anwendung von Waffen gilt gemeinhin als das Stärkste. In diese Fehleinschätzung werden weltweit Unsummen wertvoller Ressourcen investiert. Sie gefährdet inzwischen sowohl durch den Riesenbeitrag des Militärs zur Klimaerhitzung als auch durch die Atomkriegsgefahr die Existenz der Menschheit.
Gandhi sagte 1940: „Wir staunen in diesen Tagen immer wieder über die verblüffenden Entdeckungen auf dem Gebiet der Gewalt. Aber ich behaupte: Noch viel mehr ungeahnte und sogar für unmöglich gehaltene Entdeckungen wird es auf dem Gebiet der nonviolence (Gewaltfreiheit) geben.“
Die Kraft der Gewaltfreiheit wurde und wird weithin unterschätzt. Doch manche Erfolge inspirierten weltweit Menschen, diese Streitkunst ebenfalls anzuwenden. Das zeigt neben den obigen Beispielen die folgende Grafik.
Die Unabhängigkeit Indiens 1947 und die Beendigung der Marcos-Diktatur 1986 führten zu Schüben weiterer gewaltfreier Aufstände. Durch Gandhis Vorbild und die 1947 errungene Unabhängigkeit Indiens ist auf der ganzen Welt eine ermutigende Entwicklung in Gang gekommen.
Gandhis unbekannte Streitkunst
Aus welchen Gründen ist diese Streitkunst kaum bekannt? Warum setzen Konfliktakteure immer noch auf zerstörerische Strategien statt Kooperation? Offenbar fehlt das Bewusstsein, dass die gewaltfreie Vorgehensweise für mehr Gerechtigkeit ein wirksames Handlungskonzept ist, ein wohldurchdachter Aktionsplan mit guten Aussichten auf Zielerreichung. Das Magazin „Der Spiegel“ schrieb nach der Beendigung der Diktatur auf den Philippinen 1986 nichts über das Konzept „Würde anbieten“, das zu „People Power“ führte; stattdessen erachtete der renommierte Journalist Terzani es als „Doppeltes Wunder, daß die Befreiung ohne Gewalt und fast ohne Blutvergießen gelang.“ (Nr. 10/86 vom 2.3.1986). Dass dem „Wunder“ ein Handlungskonzept zu Grunde lag, wurde von den großen Medien nicht erkannt. Viele Journalist*innen bezeichneten die Ereignisse bis zu Marcos Flucht am 26. Februar 1986 als „Putsch“, obwohl die Militärs lediglich die Zusammenarbeit beendeten und keinerlei Aktivitäten gegen Marcos durchführten. Mir scheint, wir brauchen für die gewaltfreie Beendigung von Diktaturen, die ja häufig vorkommt, einen neuen Begriff.
Gandhi gebrauchte den Begriff „non-violence“, die Übersetzung von ahimsa (Nicht-Gewalt), weil dieser Begriff in Indien traditionsreich mit großer persönlicher Stärke assoziiert wird. Im Westen dagegen gilt Gewalt gemeinhin als das Stärkste und daher wird Gewaltfreiheit als schwach angesehen, ein epochaler Irrtum mit fatalen Folgen. Die geringe Bekanntheit des Konzepts ist also kein Zufall: Die international übliche Bezeichnung non-violence oder nonviolence (Gewaltfreiheit) benennt in westlichen Ohren etwas Schwaches und außerdem nur, dass etwas nicht getan wird. Dies ist irreführend, denn „keine Gewalt ausüben“ gehört zwar zum Konzept, benennt aber in Gandhis Sinne nicht dessen Kern. Diesen Mangel versuchen mit dem Thema vertraute Personen durch Ausdrücke wie „aktive Gewaltfreiheit“ oder „gewaltfreie Aktion“ zu beheben. Teilweise, auch international, wird „gewaltfrei“ ganz vermieden und z.B. „Civil Resistance“ gebraucht.
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Kraft aus Wahrheit und Liebe – Nichtzusammenarbeit mit dem Missstand
Gandhi schuf für seine Vorgehensweise, weil er „passiven Widerstand“ dafür unpassend fand, 1908 den Begriff Satyagraha und erklärte ihn als „die Kraft, die aus Wahrheit und Liebe entsteht“ („‘Satyagraha,’ that is to say, the Force which is born of Truth and Love”, in: M. K. Gandhi: “Satyagraha in South Africa”. Revised 2nd ed. Ahmedabad: Navajivan Publishing House, 1972. S. 102). In nüchterner Sprache ausführlicher ausgedrückt: Wenn Menschen sich beharrlich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen (so praktisch ist Gandhis „Wahrheit“ zu verstehen) und dabei aus einer Haltung von Respekt und Wohlwollen den anderen am Konflikt Beteiligten gegenüber handeln („Liebe“), bewirkt dies kraftvoll eine positive Änderung der Situation. „Power of goodness“ oder im Deutschen „Gütekraft“ ist eine angemessene Übertragung. ‚Güte‘ meint Qualität, Wahrheit und menschliche Haltung: Liebe. Die Anwendung von Satyagraha, Gütekraft, kann in vielen Bereichen zu Verbesserungen – zu höherer sozialer Qualität – führen, denn nicht nur „Widerstand gegen Unrecht“, sondern auch der Aufbau von Besserem, das „konstruktive Programm“, gehört dazu. Allgemein gesagt, geht es um den Abbau sozialer Missstände aller Art.
Wer, um einen Missstand abzubauen, anderen, die an dem Missstand beteiligt sind, durch Zerstören von Ressourcen, Verletzen oder Töten Schaden zufügt (‚Gewalt‘), erwartet meist, dass sie dadurch den Missstand nicht mehr aufrechterhalten können, sie wollen die anderen durch die Schädigung zum Einlenken zwingen. Wer aktive Gewaltfreiheit praktiziert (Gütekraft anwendet), erwartet, dass die anderen an einem Missstand Beteiligten den Missstand nicht mehr aufrechterhalten wollen. Es wird also der Wille adressiert, bei gewaltfreiem Vorgehen gibt es keinen Zwang.
Wenn allerdings ein Missstand durch Herrschaft aufrechterhalten wird, kann er auch dann fallen, wenn die Herrschenden nicht überzeugt werden. Denn Herrschaft ist auf Gehorsam angewiesen. Wenn genug Menschen, die eine Herrschaft stützen, dieser den Gehorsam aufkündigen (Nichtzusammenarbeit mit dem Missstand), bricht sie zusammen – wie Marcos Diktatur auf den Philippinen. Der grausame Tyrann verließ, als die Truppen seine Befehle nicht mehr befolgten und ihm freier Abzug zugesichert war, per Hubschrauber seinen Palast. Respekt und Wohlwollen gegenüber der Person Marcos und die Achtung ihres Rechts auf Leben bei gleichzeitig konsequenter Nichtzusammenarbeit mit ihrem menschenverachtenden Handeln führten zur Überwindung des akuten Unrechts. Mit der Beendigung der Diktatur durch Marcos Abzug und Vereidigung von Corazon Aquino waren allerdings die alten Strukturen noch nicht überwunden, wie sich bis heute schmerzlich zeigt.
Die Anregung von Satyagraha für heutiges Friedensengagement
Gandhis Satyagraha-Impuls regte die Entwicklung eines ganzen Straußes neuer gewaltfreier Ansätze und Organisationen an, die weltweit bemerkenswerte Wirkungen zeitigen, gerade auch in gewaltträchtigen Konflikten.
- Dazu zählen etwa die Organisation Peace Brigades International (pbi), deren unbewaffnete Schutzbegleitung von Aktivist*innen, die sich z.B. für die Menschenrechte oder den Umweltschutz einsetzen, seit der Gründung 1981 – ausnahmslos – erfolgreich schützt.
- Marshall Rosenbergs Gewaltfreie Kommunikation ist u.a. von Satyagraha inspiriert.
- Die von den Vereinten Nationen anerkannte Organisation Nonviolent Peaceforce schützt von Gewalt bedrohte Gruppen.
Wie selbstverständlich wird heute ziviler Ungehorsam als gewaltfreie Aktionsform weltweit massenhaft praktiziert. Vor Jahrzehnten waren es kreative Anti-AKW-Aktionen, unter anderem die Aktion „ausgestrahlt“, heute sind es im Umwelt-Engagement „Fridays for Future“, „Extinction Rebellion“, „Ende Gelände“ oder der Aufstand der „Letzten Generation“. - Soziale Verteidigung ist ein Handlungskonzept, wie sich die Bevölkerung in Ländern, die von Fremden (Invasion) oder eigenen Soldaten (Putsch) illegal besetzt wurden, gewaltfrei wehren kann. In Litauen gehört es zum offiziellen Verteidigungskonzept. Es wird seit dem Russland-Ukraine-Krieg in Deutschland und anderen europäischen Ländern neuerlich verbreitet und weiterentwickelt in der Kampagne „Wehrhaft ohne Waffen“.