gewaltfreie aktion

Guatemala: Dank sozialer Bewegungen wird ein Wahlsieger Präsident!

In Guatemala haben soziale Bewegungen gezeigt, dass die Zivilgesellschaft einen Wahlbetrug verhindern kann. Der überraschend gewählte Präsident Bernardo Arévalo konnte so auch tatsächlich sein Amt eintreten. Ein hoffnungsvoller Vorgang in dem von Korruption geplagten Land.
Demonstration für die Amtsübernahme der gewählten Präsidenten Bernardo Arévalo und Vizepräsidentin Karin Herrera, Fotocollage: Prensa Comunitaria
Demonstration für die Amtsübernahme der gewählten Präsidenten Bernardo Arévalo und Vizepräsidentin Karin Herrera, Fotocollage: Prensa Comunitaria

Überraschend hatte der linksliberale Politiker Bernardo Arévalo im August 2023 die Präsidentschaftswahlen in Guatemala mit 58 % der Stimmen gewonnen. Dass und warum er – trotz mancher Hindernisse – am 14.01.2024 tatsächlich auch sein Präsidentenamt antreten konnte, ist Gegenstand dieses Aufsatzes. Dieser Aufsatz analysiert die Rolle der sozialen Bewegungen nach den Präsidentschaftswahlen in Guatemala. Er nutzt dabei die von Stephen Zunes im Oktober 2020 beschriebenen Mittel zur erfolgreichen Verhinderung von Wahlbetrug. Diese beruhen auf geschichtlichen Beispielen aus den Philippinen (1986), aus Serbien (2000), aus der Ukraine (2004) und aus Gambia (2016).

Sie umfassen:

  1. Die Mobilisierung einer großen Zahl von Aktiven;
  2. Formen des Zivilen Ungehorsams, des Streiks und der Nicht-Zusammenarbeit;
  3. Strikte Gewaltfreiheit, auch bei Repression;
  4.  Zusammenarbeit bis in die (politische) Mitte der Gesellschaft hinein;
  5. Wahlbeobachtung

Zuvor ist es jedoch notwendig, ein paar Hintergründe zum Land, über die Parteien und den Wahlprozess sowie über den gewählten und inzwischen amtierenden Präsidenten zu benennen, weil ohne diese das Geschehen, das hier analysiert wird, nicht verständlich ist.

 

Guatemala: Formale Demokratie, gewährt von der Elite

Guatemala hat eine lange Geschichte von Militärdiktaturen und Guerilla-Kampf hinter sich. Insbesondere die 1980er Jahre waren durch Massaker und Repressionen gekennzeichnet, die Hunderttausende Menschen ins Exil nach Mexiko, aber auch in unwegsame Bergregionen im eigenen Land nahe der mexikanischen Grenze trieb.

Karte von Guatemala, Quelle: Wikimedia
Karte von Guatemala, Quelle: Wikimedia

1986 machten die Militärs Platz für zivile Regierungen, leidlich demokratisch gewählt, jedoch – mit wenigen Ausnahmen – überwiegend im Dienste der Eliten und gerne auch im Dienste des eigenen Profits. 15 Prozent der Guatemaltek*innen, vor allem Angehörige der indigenen Völker, leben laut UNDP in extremer Armut, weitere 36 Prozent in Armut, in manchen Departments wie San Marcos im Westen des Landes sogar noch mehr. Ein bis zwei Prozent der Bevölkerung besitzen 70 Prozent der agrarischen Ländereien.
Viele Politiker*innen besitzen Unternehmen oder entwicklungspolitische Vereine, denen der Kongress den Zuschlag bei öffentlichen Aufträgen zuschanzt. Am sichtbarsten wurde diese Selbstbedienungsmentalität, als 2015 eine von der UN eingesetzte internationale Kommission gegen Straffreiheit (CICIG) gemeinsam mit der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft (MP) die Beteiligung der Regierung an einem Zollbetrug aufdeckte. Eine Gruppe von Politiker*innen und Unternehmen (genannt La Línea) zweigten einige Millionen Dollar aus den Zollabgaben für importierte Güter für sich selbst ab, angeführt von dem amtierenden Präsidenten, Otto Perez Molina, und der amtierenden Vize-Präsidentin, Roxana Baldetti. Beide mussten aufgrund des Drucks durch große Demonstrationen von ihren Ämtern zurücktreten. Sie wurden inzwischen zu Gefängnisstrafen verurteilt.
Aus dem urban-akademischen Teil dieser 2015er-Bewegung entstammt jene Partei, die Bewegung Saatgut (Semilla), die nun 2024 den frei gewählten Präsidenten Bernardo Arévalo stellt.

Der Kandidat: der Sohn des Präsidenten der Revolution

Demonstration für die Amtsübernahme der gewählten Präsidenten Bernardo Arévalo und Vizepräsidentin Karin Herrera, Fotocollage: Prensa Comunitaria
Demonstration für die Amtsübernahme der gewählten Präsidenten Bernardo Arévalo und Vizepräsidentin Karin Herrera, Fotocollage: Prensa Comunitaria

Bernardo Arévalo wurde 1958 im Exil in Uruguay geboren. Sein Vater, Juan José Arévalo (1905-1990), war der erste gewählte Präsident Guatemalas (1945-51). In dieser Zeit erhielten zum ersten Mal alle Bevölkerungsgruppen demokratische und soziale Rechte. Es gab auch den Versuch die ungerechte Landverteilung anzugehen. 1954 wurde Arévalos Nachfolger, Jacobo Árbenz Guzmán (1913-1971) durch einen Militärputsch mit Hilfe der USA gestürzt, womit die Jahre der Militärdiktaturen eingeleitet wurden.
Mit 15 Jahren kam Bernardo Arévalo erstmals nach Guatemala, war auf einer katholischen Privatschule und zog später mit seinem Vater, der Botschafter in Israel wurde, nach Jerusalem, wo er einen Bachelor in Soziologie abschloss. Er studierte die Geschichte des Christentums in Lateinamerika an der Hebrew University und promovierte in Utrecht in Philosophie und Sozialanthropologie. Zurück in Guatemala arbeitete er in den 1980er und 1990er Jahren zeitweise im Außenministerium, war 1994/95 stellvertretender Außenminister unter Übergangspräsident Ramiro de Léon Carpio und später kurzzeitig Botschafter in Madrid. Dann arbeitete er für mesoamerikanische Forschungsinstitute und Organisationen wie Interpeace oder dem US Institute for Peace.
Seine parteipolitische Arbeit begann mit den Protesten gegen Korruption 2015 und der Gründung von Semilla. 2019 wurde Arévalo Kongressabgeordneter und Fraktionschef für Semilla. Im Januar 2023 wurde er gemeinsam mit der Biologin und Umweltaktivistin Karin Herrera zum Kandidat*innen-Paar für die Präsidentschaft und Vizepräsidentschaft gekürt.

Der Wahlprozess

27 Parteien sind bei der Kongress– und Präsidentschaftswahl angetreten. Guatemaltekische Parteien sind in der Regel ein Vehikel für überwiegend konservative, rechtsliberale oder rechtsextreme Politiker*innen, mit deren Hilfe sie Macht bekommen bzw. erhalten wollen. Sie wollen daher den Status Quo erhalten und keinen ernsthaften Wandel der ungerechten Wirtschaftsstrukturen und Landverteilung oder ein Ende der Diskriminierung der indigenen Bevölkerung einleiten.
Eine Ausnahme ist die aus der indigenen Bewegung „Komitee für bäuerliche Entwicklung“ (CODECA) hervorgegangenen Partei „Bewegung für die Befreiung der Völker“ (MLP) um Thelma Cabrera, die bei den Präsidentschaftswahlen 2019 auf Platz vier gekommen war. Sie hatte den beliebten Menschenrechts-Ombudsmann, Jordan Rodas, zu ihrem Vizepräsidentschaftskandidaten gemacht. Beiden wurden durchaus Chancen eingeräumt, sie wurden jedoch unter fadenscheinigen Gründen aus dem Rennen genommen. Für die Menschen links von der Mitte war damit eine Wahlalternative verschwunden.
So blieb Bernardo Arévalo, der aufgrund seines Profils als Korruptionsgegner wählbar für die indigenen Aktivist*innen linker Gesinnung, für städtische Intellektuelle und für die vielen jungen Menschen war, die von der Korruption und Ungerechtigkeit genug hatten.
War er anfangs in Umfragen bei um zwei Prozent gelegen, erhielt er im ersten Wahlgang im Juni 2023 15,5 Prozent und lag hinter Sandra Torres von der sozialkonservativen UNE, die 20 Prozent erhielt. Im zweiten Wahlgang erhielt Arévalo dann im August 2023 knapp 60 Prozent und gewann klar.

Der ‚Putsch‘ der Staatsanwaltschaft

An diesem Putsch waren Teile der Justiz beteiligt. Schon vor der Stichwahl hatte der Richter Fredy Orellana Semilla vorübergehend den rechtlichen Status als Partei entzogen, weil bei der Parteigründung angeblich Unterschriften von Unterstützer*innen gefälscht worden waren. Die Oberste Wahlbehörde und die mit ihr verbundene Registratur, die dies anders sahen, wurden durchsucht. Dennoch konnte Arévalo an der Stichwahl teilnehmen – und gewann. Danach unterstützte der Leiter der Sonderstaatsanwaltschaft gegen Straffreiheit, Rafael Curruchiche, die Vorhaltungen der unterlegenen Kandidatin Sandra Torres, dass die Wahlen manipuliert worden seien und neu ausgezählt werden müssten. Tatsächlich beschlagnahmte die MP widerrechtlich die Urnen mit den Stimmzetteln. Es gab auch Versuche, die Immunität des gewählten Präsidenten und der gewählten Vizepräsidentin durch ein Ermittlungsverfahren aufzuheben.
Nach längeren Hin und Her griff das Verfassungsgericht am 14.12.2023, angerufen durch Anwält*innen der indigenen Bewegungen, ein, sodass die Machtübergabe tatsächlich am 14. Januar stattfand.
Und wer in diesem ganzen Prozess ebenfalls eingriff, war die Bevölkerung. Die traditionellen indigenen Autoritäten. Eine neue soziale Bewegung, wie manche sagen.

Der Widerstand der sozialen Bewegungen

Die Tatsache, dass ein Politiker, der sich schon seit langem glaubwürdig gegen Korruption eingesetzt hat, gewählt wurde, hat in der Bevölkerung für Zuversicht gesorgt. Dass zugleich eine Anti-Korruptions-Sonderstaatsanwaltschaft gegen diese Wahl opponierte, brachte das Fass zum Überlaufen. So gab es ein gutes halbes Jahr Proteste im Land. Auf ihrem Höhepunkt gab es nach Angaben des damaligen Innenministers bis zu 400 Blockaden, weiterhin Arbeitsniederlegungen verschiedener beruflicher Gruppen.

Zunes Erfolgskriterien für erfolgreichen Widerstand – in Guatemala angewandt?

Vor diesem Hintergrund sollen die von Stephen Zunes aufgestellten Erfolgskriterien für den erfolgreichen Widerstand gegen Wahlbetrug als Analyseraster für das Geschehen in Guatemala angewandt werden. Zunes gehört zu den renommiertesten Friedensforschern der USA. Seine Erfolgskriterien wurden aus Beispielen aus allen Erdteilen der Welt gewonnen und werden in ähnlicher Weise auch allgemein in Bezug auf den Erfolg gewaltfreier Aktionen genannt, z.B. in der Studie von Chenoweth/Stephan „Why Civil Resistance Works“ (2011).
Es handelt sich um: 1. Mobilisierung einer großen Zahl von Aktiven; 2. Formen des Zivilen Ungehorsams, des Streiks und der Nicht-Zusammenarbeit; 3. Strikte Gewaltfreiheit, auch bei Repression; 4. Zusammenarbeit bis in die (politische) Mitte der Gesellschaft hinein; 5. Wahlbeobachtung.
Die Basis der Analyse bilden verschiedene Artikel aus guatemaltekischen Medien oder auch Waging Nonviolence, die, im deutschsprachigen Nachrichtendienst ¡Fijàte! veröffentlicht wurden.

1. Mobilisierung

Der Sozialpsychologe und indigene Aktivist, Maco Garavito von der guatemaltekischen „Liga für mentale Hygiene“ weist bei seiner Analyse der Proteste darauf hin, dass die Bewegung nicht mehr – wie früher – vertikal, sondern horizontal organisiert sei. Sie basiere auf einer Kollektivität, wie sie in der indigenen Bevölkerung historisch gelebt wurde. Da der Staat in ländlichen Regionen kaum präsent war, hat sich die rurale Bevölkerung selbst organisiert. Genau diese traditionellen Autoritäten der verschiedenen ethnischen Gruppen hatten eine Schlüsselrolle bei den Protesten.
Ein Beispiel dafür sind die sog. 48 Kantone von Totonicapán, die bereits vor der Unabhängigkeit von Spanien rebelliert hatten (Anastasio Tzul und Lucas Aguilar). Damit nicht die indigene Bevölkerungsmehrheit eine Unabhängigkeit ausrief, haben die nicht-indigenen einheimischen Eliten 1823 ihre eigene Unabhängigkeitserklärung abgegeben und gegenüber den Spaniern durchgesetzt. Seither haben sich die 48 Kantone selbst organisiert und bis heute üben sie – unabhängig von den kommunalen Bürgermeister*innen – die eigentliche Macht in den Dörfern aus. Das heißt: Jenseits des staatlichen Systems, das allzu häufig wenig für die Menschen tut, haben sie eine glaubhafte, historisch gewachsene Autorität gegenüber der indigenen Bevölkerung und können so Menschen mobilisieren. „Die Menschen aus dem einen Dorf gingen auf die Straße und jene aus anderen Dörfern folgten ihnen sofort“, so sagte es ein Aktivist gegenüber Waging Nonviolence. Denn viele Menschen waren wütend: Sie hatten die einzige Person gewählt, der sie eine Veränderung zutrauten, und nun wurde versucht, ihnen diese Hoffnung auf einen Wandel zu nehmen.

2. Aktionsformen

Die Tatsache, dass ein Politiker, der sich schon seit langem glaubwürdig gegen Korruption eingesetzt hat, gewählt wurde, hat in der Bevölkerung für Zuversicht gesorgt. Dass zugleich eine Anti-Korruptions-Sonderstaatsanwaltschaft gegen diese Wahl opponierte, brachte das Fass zum Überlaufen. So gab es ein gutes halbes Jahr Proteste im Land. Auf ihrem Höhepunkt gab es nach Angaben des damaligen Innenministers bis zu 400 Blockaden, weiterhin Arbeitsniederlegungen verschiedener beruflicher Gruppen.

Der Widerstand der sozialen Bewegungen

Indigene Formen des Protestes, Collage: Prensa Comunitaria
Indigene Formen des Protestes, Collage: Prensa Comunitaria

Zudem haben die 48 Kantone und andere indigene Organisationen langjährige Erfahrung mit Aktionsformen wie Protesten, Blockaden, Streiks, usw. Sie sind auch bereit, diese über eine längere Zeit aufrechtzuhalten. Die 48 Kantone haben federführend die am 2. Oktober 2023 begonnene und am 14. Januar 2024 mit der Amtseinführung von Arévalo und Herrera beendete Mahnwache vor dem Gebäude der Staatsanwaltschaft organisiert.

Die indigenen Aktiven nutzten in ihrem Aktionsrepertoire sowohl traditionelle indigene Rituale als auch juristische Wege. So haben Mitglieder der indigenen Gemeinden zunächst das traditionelle Verfahren des Xik’ay (Peitsche) für jene Beamt*innen angewandt, die sie als „korrupt“ bezeichneten. Bei dieser Aktion handelt es sich um eine Sanktion, eine uralte Maya-Rechtsprechung gegen Menschen, die einen Fehler begehen. Es wurde eine Decke mit den Gesichtern der Protagonist*innen des Putsches mit Peitschen geschlagen. Das Ritual soll diese Personen mit Scham erfüllen und ihnen zugleich neue Energie und ein neues Verantwortungsbewusstsein einflössen. Dieser Form der symbolischen Bestrafung geht traditionell ein Gespräch mit den Delinquenten voraus, in denen diese ihre Fehler einsehen und sich läutern sollen. Da die betreffenden Personen der Staatsanwaltschaft jedoch ihre Fehler nicht einsahen und nicht zu ernsthaften Gesprächen bereit waren, fanden diese nicht statt.
Neben solchen Straßenaktionen hat die Bewegung immer wieder den juristischen Weg beschritten. So legten traditionelle Autoritäten eine Verfassungsbeschwerde ein, weil die Staatsanwaltschaft das Wahlergebnis vom 20.08. und den rechtmäßigen Weg zur Amtsübergabe der gewählten Präsident*innen hintertrieben haben. Sie führte letztlich zu der Entscheidung vom 14. Dezember 2023, die schließlich die Amtsübergabe ermöglichte.
Die Aktionsform der Nicht-Zusammenarbeit, die Zunes erwähnt hatte, wurde nicht eingesetzt, da es hier um einen versuchten, aber noch nicht vollendeten Wahlbetrug ging. Erst dann, wenn die Wahlergebnisse nicht anerkannt worden wären und es damit nicht zu einer Amtsübergabe an den gewählten Präsidenten gekommen wäre, hätte die Bevölkerung zu dem Instrument der Nicht-Kooperation greifen können. Sie hat sich damit präventiv verhalten, indem sie dauerhafte Protestformen einsetzte, bevor es, aus ihrer Sicht, zum Äußersten gekommen wäre.
Es gab insofern einen Akt zivilen Ungehorsams, als sich der Innenminister David Napoleon Barrientos weigerte, die Anordnung des Präsidenten Giammattei auszuführen, mit Gewalt gegen die Blockierenden vorzugehen. Er trat nach den Vorkommnissen in Malacatán (s.u.) zurück und wurde dann wegen Ungehorsam und Pflichtverletzung angezeigt.

3. Strikte Gewaltfreiheit, auch bei Repression

Berichten über die Straßenblockaden zufolge hat es an manchen Stellen brennende Barrikaden gegeben, insgesamt war der Widerstand aber überwiegend gewaltfrei.
Die Repression war am höchsten in Malacatán im Westen des Landes, sie kam allerdings nicht von der Polizei, sondern von Handlangern eines lokalen Bürgermeisters. Ein Demonstrant wurde erschossen, drei Personen schwer verletzt. Wütende Demonstrierende haben daraufhin Polizeiautos und -motorräder angezündet. Sie verfolgten die mutmaßlichen Angreifer und warfen mit Steinen auf die Pick-ups der mutmaßlichen Täter, als sie von der Polizei eskortiert wurden (um sie – nach Angaben der Polizei – an einem sicheren Ort zu verhaften).
In aufgebrachter Stimmung wird also von einigen Menschen zur Gewalt gegen Sachen, seltener gegen Menschen gegriffen. In der Hauptstadt hat die Polizei Tränengas gegen vermummte Personen eingesetzt, die Fensterscheiben eingeschlagen hatten.
Von einer strikten Gewaltfreiheit aller demonstrierenden Personen kann insofern nicht die Rede sein, aber davon, dass die Organisator*innen der Proteste auf gewaltfreies Verhalten achteten.
Kardinal Alvaro Ramazzini berichtete in einem Interview, das in der deutschsprachigen ¡Fijàte!-Ausgabe 791 auf Deutsch veröffentlicht wurde, von seinem persönlichen Erleben einer Blockade-Aktion in seiner Diözese Huehuetenango: „Gestern Abend besuchte ich (…) eine Gruppe, die eine Autobahn in Richtung mexikanische Grenze blockierte. Sie waren sich der Notwendigkeit bewusst, kranke Menschen, die durchkommen mussten, oder Lastwagen, die Benzin brachten, nicht zu bestrafen, denn im Moment sind die Tankstellen in Huehuetenango leer. Sie brauchen ein Mindestmaß an gesundem Menschenverstand, um einen starren Extremismus zu vermeiden, der das Leben der Menschen gefährdet.“
Wurde eine Blockade von der Polizei geräumt, gingen die Menschen an einen anderen Ort und blockierten dort. Wiliam Ortega, Mitglied von CODECA, sagte gegenüber dem US-Nachrichtenportal Truthout: „Die Menschen haben keine Angst. Die Sicherheitskräfte haben einfach nicht die Anzahl oder die Kapazität, um alle Blockadeaktionen im ganzen Land zu räumen. Wenn sie uns von hier wegbringen, werden wir uns einfach woanders neu gruppieren.“

4. Zusammenarbeit bis in die Mitte der Gesellschaft hinein

Wichtig war für die Bewegung, dass sie es schaffte, weitere Teile der Gesellschaft zu mobilisieren: Neben den Blockaden und Demonstrationen gab es in dieser Zeit landesweite Arbeitsniederlegungen.
Am 7. November haben sich z.B. Mitglieder der Feuerwehr und von Transportunternehmen in Sololá, der Costa Sur und in Jutiapa dem Streik angeschlossen. Neben Aktiven aus der indigenen Bewegung nahmen auch Studierende, Marktverkäufer*innen oder Reiseveranstalter*innen an den Aktionen teil. Diesen waren Feste des Widerstands, mit Musik, Tanz, Kunst, Zeremonien, Piñatas (d.s. Figuren aus Pappmasche, gefüllt mit Süßigkeiten, die durch Schläge geöffnet werden und herausfallen) und anderen Aktivitäten.
Eine nicht unwichtige Rolle spielte Erzbischof Ramazzini als Sprecher einer sog. Nationalen Einheit des friedlichen Widerstands. Er fungierte als Brücke zwischen dem Protest und Teilen der Elite.
Bedeutsam war zudem, dass die meisten Zeitungskolumnist*innen auf der Seite der Bevölkerung waren. Unternehmensverbände gingen zwar juristisch gegen die Blockaden vor, sprachen sich zugleich in einer Presseerklärung gegen die Versuche der Staatsanwaltschaft aus, die Amtseinführung von Arévalo zu verhindern, sodass sie zumindest das wichtigste Ziel der Proteste öffentlich teilten.

5. Wahlbeobachtung

Die zivilgesellschaftlichen Sektoren haben neben den Wahlbeobachtungsmissionen der EU und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) eine eigene Wahlbeobachtung organisiert, den Mirador Electoral. Sie haben – wie auch die EU – von Versuchen des Stimmenkaufes berichtet, die vor allem die beiden größten Parteien UNE und VAMOS versucht hätten – ohne Erfolg. Mitglieder des Mirador sind die urbane Gruppe „Aktion der Bürger*innen“ (AC) und das „Netzwerk für Transparenz“, die indigene, der politischen Linken nahestehende „Prensa Comunitaria“ und die feministische Organisation „Schmetterlingsflügel“ (Alas de Mariposa).

Fazit:

Traditionelle Maya-Autoritäten auf einer Demonstration in der Hauptstadt.
Traditionelle Maya-Autoritäten auf einer Demonstration in der Hauptstadt, Foto: Benjamin Saqui, Prensa Comunitaria

Beim Widerstand gegen den versuchten Wahlbetrug in Guatemala ist es insbesondere der Aktionsmacht der indigenen Bewegungen gelungen, eine hohe Mobilisierung zu erreichen. Hinzu kam, dass sie horizontal organisiert und im Verbund mit nicht-indigenen Intellektuellen und Medien agierten. Auch das demokratische und rechtsstaatliche Verständnis des guatemaltekischen Verfassungsgerichts hat am Ende dazu geführt, dass Bernardo Arévalo tatsächlich sein Präsidentenamt antreten konnte.
Von den Kriterien von Stephen Zunes sind damit außer dem Punkt der Nicht-Zusammenarbeit und mit gewisser Einschränkung der unbedingten Gewaltfreiheit alle Methoden angewandt worden. Die Nicht-Zusammenarbeit wäre erst dann zum Tragen gekommen, wenn die Staatsanwaltschaft die Übernahme der Präsidentschaft tatsächlich verhindert hätte. Das war im Gegensatz zu den von Zunes angeführten Beispielen nicht der Fall.
In Guatemala haben damit die indigenen Gruppen mit vielfältigen gewaltfreien Aktionen, aber auch durch eine partielle Zusammenarbeit mit anderen Sektoren der Gesellschaft, und gestützt durch mediale Unterstützung und internationale Solidarität von USA, EU, OAS und UN, einen Erfolg gefeiert, der auch in anderen Regionen dieser Welt zur Nachahmung inspiriert.
Wir dürfen gespannt sein, wie das Paar an der Spitze des Landes nun regieren wird. Die Bevölkerung begleitet es wohlwollend, aber kritisch.

Zum Autor

Stephan Brües  hat 1995 nach fünfmonatiger Feldforschung in Guatemala und Mexiko eine Diplomarbeit über die soziale Bewegung der Rückkehrer*innen geschrieben. Nach weiteren Reisen dorthin hat er darüber 2010 in dem Aufsatz „Der Quetzal rief … in ein wirtschaftlich prekäres Land. Die Ambivalenz der selbstorganisierten Rückkehr der Flüchtlinge“ in dem von Nikolas Reese und Judith Welkmann herausgegebenen Sammelband „Das Echo der Migration“ reflektiert. Am 3. Mai wird er erneut für 9 Tage nach Guatemala fliegen und Orte gewaltfreien Widerstands indigener Gruppen besuchen. Er wird darüber in gewaltfreie aktion berichten, insbesondere über die Bedeutung der Gewaltfreiheit als Methode und Haltung für indigene Bewegungen.

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