Selbstlosigkeit führt aus der Gewaltspirale

Was uns ein aktuelles Beispiel aus dem Westen Indiens über gewaltfreie Konflikttransformation und die Gründung von Frieden lehrt. Eine Reportage.
Hier sollte das Titelbild zu sehen sein. Es zeigt das Kernteam des Samvedana Trusts
Das Kernteam des Samvedana Trusts: Mandaben und Hasmukh Patel, rechts Shilpa Vaishnav, im Kreise von Kollegen (Foto: Samvedana Trust Virampur).

Wir steigen aus dem Mini-Van, setzen den Fuß auf den Boden von Virampur und die Zeit bleibt einen Moment stehen. Saubere Luft ist in Ahmedabad, wo wir herkommen, ein rares Gut – aber hier hat sie einen süßlichen, altvertrauten Geschmack. Es fühlt sich an, als hätte ich nach Tagen die Fenster geöffnet. Wir, eine kleine Gruppe internationaler Studierender, sind mitten im ruralen Indien, im Bundesstaat Gujarat, nicht allzu weit entfernt von der pakistanischen Grenze. Gerade noch haben wir uns durch ein buntes Farbenmeer am Bahnhof gewühlt und uns in einen ratternden Zug gezwängt. Dann ging es im Mini-Van im Zickzack über holprige Straßen, bei ständigem Hupen vorbei an Kühen, Büffeln, Feldarbeiterinnen, überladenen Karren, Motorrädern, Rikschas, und Lastwagen. Jetzt ist alles ruhig.

Wir stehen auf dem Gelände des Samvedana Trust, einer Nichtregierungsorganisation, die sich im Distrikt Banaskantha für das Wohl der indigenen Gemeinschaften der Bhil und der Dungri Garasia einsetzt. Bei der Gründung vor über 30 Jahren herrschten schwierige Bedingungen. Die Familien hatten kaum Zugang zu Bildung oder medizinischer Versorgung und die Gegend war zu Trockenzeiten von Hungersnot und Viehsterben betroffen. Nur zwei von hundert Frauen konnten lesen und schreiben. Zugleich sind die Bhil und Dungri Garasia etwas Besonderes, Einzigartiges. „Die Leute hier haben ein goldenes Herz“, so beschreibt es unser Fahrer.

Wir sind gekommen, um zu lernen. Wir möchten verstehen, was es heißt, sich für den Frieden einzusetzen, auch wenn das schwierig ist. Wie arbeitet eine Nichtregierungsorganisation im Westen Indiens für Bildung, Entwicklung und gewaltfreie Konflikttransformation? Wie kann es unter widrigen Bedingungen gelingen, einen Nährboden für die Entfaltung des Lebens zu bestellen, ein stabiles Netz vertrauensvoller, menschlicher Beziehungen zu errichten und im privaten, alltäglichen Handeln der Betroffenen friedenserhaltende Muster anzulegen? Wie gelingt es, Gewalt und soziale Ungerechtigkeiten zu reduzieren, ohne die Kultur und Identität der Betroffenen zu zerstören? Und wie werden im Heimatstaat Gandhis, von einer Organisation, die sagt, sie arbeitet in der Tradition des Mahatmas, dessen Werte und gewaltfreien Ansätze im 21. Jahrhundert umgesetzt? Sind diese noch zeitgemäß?

Samvedana Trust: Entwicklungsorganisation im Westen Indiens

Unser Unterfangen soll damit beginnen zu üben, verfestigte Vorstellungen von richtig und falsch, Entwicklung und dem, was als wertvoll gilt, zurückzustellen und ein empathisches Verständnis für die Kultur der indigenen Gemeinschaften zu entwickeln. Das war damals der erste Schritt der Gründungsmitglieder des Samvedana Trusts (ST), als sie sich in den 80er Jahren entschieden, den ST ins Leben zu rufen und fortan in Virampur zu leben. Für sie war es selbstverständlich, dass ein empathisches Verständnis nur funktioniert, wenn man den Alltag der Menschen teilt und vor Ort ist. „Entwicklung ist keine Eintagsfliege … es geht darum, kreative und praktische Lösungen für Probleme zu finden und nicht um theoretische Belehrungen“, sagt der Gründer der Organisation, Hasmukh Patel. Entwicklung heißt immer auch bei Konflikten anzusetzen. Und dabei verfolgt die Organisation den Ansatz Gandhis: keine kurzfristigen Konfliktlösungsversuche von unabhängigen, externen Akteur*innen, sondern Integration in den Konflikt. Dahinter steht die Überzeugung, dass eine Gruppe, erst wenn sie Teil der lokalen Realität und direkt davon betroffen ist, auch tatsächlich zu deren Transformation beitragen kann. Das Projekt des Samvedana Trust ist ein Lebensprojekt.

Samvedana heißt Mitgefühl oder Einfühlungsvermögen. Trust steht in erster Linie für das Treuhandverhältnis zur Verwaltung der Spenden. Aber es spielt gleichzeitig auf ein weiteres Verständnis an, das Gandhi geprägt hat. Im Sinne seiner Weltanschauung ist auch das Leben selbst ein Treuhandverhältnis: Es wurde gegeben, um der Gemeinschaft zu dienen. Das heißt zuallererst, sich für Schwächere, für marginalisierte Gruppen im eigenen Land einzusetzen. Die indigene Bevölkerung – die Adivasi, wie sie sich oft selbst bezeichnen – stehen zweifellos am Rand der indischen Gesellschaft und sind doch seit Tausenden von Jahren Teil von ihr. Das ist, was Mandaben Patel, Mitgründerin des ST und Frau von Hasmukh Patel, meint, wenn sie sagt: „Ich bin Patriotin“. Sie steht damit in der Tradition der Gandhi-Bewegung, die die Größe eines Landes am inneren Zusammenhalt und dem Umgang mit den Schwächsten misst.

Die Adivasi: Indigene Gemeinschaften in Indien und in Gujarat

Im Jahr 2011 lebten in Indien nach Angaben der offiziellen Volkszählung rund 104 Millionen Angehörige der Adivasi. Das entspricht 8,6 % der indischen Bevölkerung. Über die historischen Ursprünge der indischen Bevölkerung gibt es nach wie vor Diskussionen. Eine Version versteht die Adivasi als die Nachfahren der ursprünglichen Jäger- und Sammlervölker des Subkontinents. Diese wurden im Süden von drawidischen Völkern und im Norden von indogermanischen Nomaden aus Zentralasien, vertrieben oder auch versklavt. Die Nachfahren der Sklaven wurden zu Dalits, den „Unberührbaren“, die heutzutage die unterste Kaste in der indischen Gesellschafsordnung darstellen.

Doch vielen indigenen Gemeinschaften gelang es, sich in entlegenere, meist bewaldete Landesteile zurückzuziehen und dort weitgehend autark zu leben, größtenteils unabhängig von den indischen Königtümern. Dies änderte sich unter der britischen Kolonialherrschaft. Das Britische Kolonialreich erklärte die Wälder zum Alleinbesitz des Staates und überzog das Land mit breit angelegten Infrastrukturmaßnahmen, um Zugang zu Rohstoffen zu erhalten. Entsprechend heißt Adivasi ins Deutsche übersetzt „erste Siedler“, wobei die indische Regierung diese historische Selbstdarstellung und Bezeichnung nicht anerkennt. Der indische Staat listet 705 amtlich registrierte „Stammesgemeinschaften“ auf, denen nach der indischen Verfassung staatliche Schutz-, Förder- und Wohlfahrtsprogramme zustehen. Die Bhil und Dungri Garasia im Bundesstaat Gujarat gehören dazu und bezeichnen sich selbst als Adivasi.

Hier ist Bild 2 zu sehen sein. Es zeigt Frauen der indigenen Gemeinschaften in Banaskantha
Frauen der indigenen Gemeinschaften in Banaskantha (Foto: Samvedana Trust Virampur).

Hier in Banaskantha, wenn der Blick vom Gipfel des die Gegend dominierenden Bergs Shankleshwari über die üppige Landschaft schweift, verschiebt sich nach ein paar Tagen des Aufenthalts die Perspektive – und das Land zu unseren Füßen verwandelt sich in eine geistesgeschichtliche Karte. Das Aravalligebirge, die Wälder, Seen und Flüsse stehen nicht länger für das, was einer Beherrschung unterworfen werden kann und muss, sondern diese erwachen zum Leben und beheimaten Geschichten, Legenden, Mythen, Lieder und Identität. Auch wenn wir sie noch nicht kennen oder verstehen: von den Berggipfeln und aus alten Bäumen flüstern Naturgottheiten und die Geister der Ahnen wachen über unsere Schritte.

Die Bhil und Dungri Garasia leben im Einklang mit der Natur und größtenteils autark. Teilen und Solidarität werden hochgehalten. Sie verstehen sich als eins mit der Gemeinschaft und dem Land. Das Wohl des Einzelnen hängt vom Wohl anderer Personen und vom Wohl der Natur ab. Harmonie auf dieser umfassenden Ebene stiftet Sinn. Und diese spirituelle Beziehung zum Land speist sich aus einer Mischung aus hinduistischen und animistischen Vorstellungen. Ihre Lebensweise und Kultur, die ein flüchtiger, selbstgefälliger Blick als unterentwickelt und primitiv abtun könnte, kann uns lehren und wieder ins Gedächtnis rufen, was wir in Europa seit Jahrhunderten vergessen haben und doch heute dringender brauchen als zuvor.

Das ist die Botschaft, die damals bereits Gandhi im Kontext des britischen Kolonialreichs äußerte, und es ist die Botschaft des Samvedana Trusts: Dass Entwicklung einen zu hohen Preis hat, sobald diese mit der Zerstörung der lokalen Kultur und Identität einhergeht. Der Lebensstil der Adivasi hat Gandhis ökonomische Ideen inspiriert. Entwicklung ist nur dann positiv, wenn sie Selbstermächtigung schafft. Abhängigkeiten, die unter dem Deckmantel der Entwicklung geschaffen werden, dienen der Herrschaft und Kontrolle. Die Verbindung mit dem wahren Leben findet sich auf dem Land und in Verbindung mit körperlicher Arbeit.

Das ländliche Indien

Wir erkunden die Gegend zu Fuß. Durch die dichtesten Wälder auf den Berggipfeln streift der Tiger, wird uns lachend gesagt, als wir auf unserer Tour kleinen Straßen und Wegen folgen. „Er steigt mit der Dunkelheit herab, also geht nicht zu dicht an die Hänge heran und verirrt euch nicht im Abendgrauen“. Die schmale Straße windet sich durch dichte Vegetation, vorbei an Palmen, Kakteen, bunten Blumen, dichtem Unterholz und Tamarinden- und Banyanbäumen. Wasserbüffel und Buckelrinder stehen an Pflöcken und wiederkauen vor sich hin, dazwischen kleine Felder, auf denen wir einen Blick auf Reis, Wunderbäume, Fenchel, Baumwolle, Flaschenkürbisse, Mangos, Papayas und Zitrusfrüchte erhaschen – all die köstlichen Zutaten der lokalen Küche.

Die Eindrücke aus dem ländlichen Indien zeichnen ein Bild, das sich in großem Maße von dem in unseren Heimatländern unterscheidet. Keine großflächigen und menschenleeren Felder! Hier reiht sich ein kleines Feld an das andere. Überall stehen Hütten und Häuser, in denen Familien wohnen und die sich zu einer fußläufig erschließbaren, ruralen Nachbarschaft zusammensetzen. Und das Land sprüht über vor Leben. Auf den kleinen Grundstücken arbeiten Menschen aller Generationen in Gruppen. Auf den Straßen begegnen wir ununterbrochen Menschen.

Das Herz Indiens – das unermessliche Land abseits der Metropolen – ist vielerorts ein gigantisches Netzwerk aus mit dem Land verbundener Familien. Sie teilen sich einen Raum zum Schlafen, sind nie allein und können auf engem Raum zusammenleben. Sie sind im herkömmlichen Verständnis nicht gebildet, haben keine formalen Bildungsabschlüsse, doch sie wissen viel, denn sie versorgen sich selbst mit dem eigenen Anbau und den Tieren und verlassen sich auf die Nachbarn als Absicherungsnetz. Aus den Augen, die unsere Erkundungstour überrascht verfolgen, sprechen starke Persönlichkeiten. Als die Nacht hereinbricht und wir vom Weg abgekommen sind, fährt uns ein alter Traktor hinterher. Der Fahrer bedeutet uns mit einem Grinsen aufzusteigen und bringt uns zurück. Als Außenstehende sind wir doch immer ahnungslos.

Drei sozio-kulturelle Probleme

Es gibt unter den indigenen Gemeinschaften der Region drei zentrale, sozio-kulturelle Probleme, sagt der Gründer der Organisation, Hasmukh Patel: die hohen Geburtenraten, der übermäßige Alkoholkonsum und das Rachesystem. Diese Phänomene und ihre Folgen – u.a. Gewalt, Krankheit, Ernährungsunsicherheit – zerrütten nicht nur die Gemeinschaft. Sie machen es schwer, überhaupt eine Gemeinschaft aufzubauen und erzeugen vielerlei Abhängigkeiten, die Kultur und Eigenständigkeit bedrohen.

Viele Frauen haben zehn Kinder oder mehr. Die Bevölkerungsdichte Indiens beschränkt sich nicht auf die Städte und die stark wachsende Bevölkerung stellt die Region um Virampur vor große Herausforderungen. Es gibt nicht genug Schulen oder ein ausreichendes Angebot medizinischer Versorgung. Oftmals liegen den Behörden keine Zahlen über die Bevölkerung und die Anzahl der Kinder vor bzw. die Existenz ganzer Dörfer ist unbekannt. Das hat zur Folge, dass der Bundesstaat keine Schulen baut. Laut Gesetz haben zwar alle indischen Kinder im Alter von sechs bis 14 Jahren das Recht auf eine kostenlose Schulbildung, doch ohne offizielle Statistiken passiert wenig. Behörden holen keine Informationen ein und indigene Gemeinschaften erheben in der Regel keine Forderungen nach Bildung, weil die Kinder eine wertvolle Unterstützung bei der Feldarbeit sind.

Der globale Markt dringt auch in diese Gegenden vor und alkoholische Getränke sind davon nicht ausgenommen. In größeren Dörfern reihen sich in der Hauptstraße kleine Läden aneinander, in denen günstige Knabbereien, Tabak, Fruchtsäfte und Spielzeug verkauft werden. Im eigentlich alkoholfreien Bundesstaat Gujarat sind entsprechende Getränke unter der Hand trotzdem zu bekommen. Abhängigkeiten und Sucht führen zu häuslicher Gewalt, Landverkauf und Verarmung.

Bild 3 zeigt eine Landschaft im Distrikt Banaskantha, Gujarat, mit Blick auf den Berg Shankleshwari
Blick auf den Berg Shankleshwari (Foto: Kevin Kaisig)

Schließlich ist da die Sache mit dem Rachesystem. Solidarität und Zusammenhalt sind eherne Werte unter den Bhil und Dungri Garasia. Ein Angriff auf ein Mitglied wird wie ein Angriff auf die gesamte Gemeinschaft begriffen. Dabei können aus alltäglichen Situationen tragische Zwischenfälle erwachsen. Nicht alle in der Region haben Zugriff auf motorbetriebene Fortbewegungsmittel und so ist es gang und gäbe, dass Fahrer das fußläufige Volk ein Stück des Weges mitnehmen. Kommt es jedoch zu einem Unfall und stirbt dabei ein Mitglied einer anderen Gemeinschaft – dann wird dies als ein Angriff begriffen, der nach der Tradition zwingend gerächt werden muss. Dies äußert sich in einem entsetzlichen Ausbruch der Gewalt. Die verantwortliche Familie wird aufgesucht und umgebracht, das Haus, die Habseligkeiten und die Felder werden verbrannt. Die Familien der Bhil und Dungri Garasia sind damit in Gewalt und Konflikten gefangen, die sich auf ewig fortschreiben.

Der Ansatz des Samvedana Trusts

In dieser Situation konnte der Samvedana Trust in knapp 30 Jahren Vieles erreichen. Die Organisation bemühte sich um die Bereitstellung von Baumaterial. Sie sammelte Spenden, beschaffte das Material und verteilte es an die Familien, die oft Jahr für Jahr nach dem Monsun ihre Häuser neu bauen mussten, da sie den Witterungen nicht standhielten. Der Ansatz von Samvedana sei, keine Abhängigkeiten zu schaffen, so erklärt es Mandaben Patel, sondern eigenständige, unabhängige Individuen zu unterstützen und zu stärken. Der Bedarf wurde in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung bestimmt und die Leute bauten ihre Häuser selbst.

In ähnlicher Weise organisierte der ST die Mittel, um 6.000 Brunnen in der Region zu vertiefen und 97 Staudämme zu bauen, die es ermöglichen Wasser für die Trockenzeit zurückzuhalten. Und das über 30.000 ha neu verlegte Tröpfchenbewässerungssystem garantiert eine effektivere Wassernutzung. Vormals war es nicht möglich, in der Trockenzeit überhaupt etwas anzubauen – dank der Maßnahmen ist das nun möglich, was erheblich zur Ernährungssicherheit beiträgt. Während der schlimmsten Trockenperiode im Jahr 2008, als das Vieh der Bhil und Dungri Garasia zu verenden drohte, erbaute die Organisation eine Vieh-Rettungsstation, zu der die Menschen ihre Tiere treiben und tränken konnten.

Der Samvedana Trust bemühte sich um eine Verbesserung der medizinischen Versorgung und veranstaltete monatliche Behandlungsplätze. Er förderte Frauennetzwerke, Frauen-Selbsthilfegruppen und fungierte als Mittler für Mikrokredite an Kleinunternehmerinnen. Samvedana gründete eine Reihe informeller Grundschulen, um auch in entlegenen Regionen ein Bildungsangebot bereitzustellen. Sobald genügend Kinder regelmäßig kamen, konnten diese an die Verwaltung des Bundesstaats übergeben werden.

All diese Maßnahmen tragen dazu bei, die Gemeinschaft, den Zusammenhalt und die Unabhängigkeit der Bhil und Dungri Garasia zu stärken. Beim Samvedana Trust arbeiten zwischen 60-70 Mitarbeiter*innen. Das umfasst unter anderem Lehrer*innen, medizinisches Personal und die Verwaltung. Nur knapp vier Prozent der Mitarbeiter*innen kommen ursprünglich aus einer anderen Region des Bundesstaats Gujarat. Diejenigen, die die Projekte tatsächlich umsetzen, sind die indigenen Gemeinschaften selbst. Über die Arbeit an gemeinnützigen Projekten und die gegenseitige Unterstützung verbessern sich die Lebensbedingungen. Und es entstehen soziale Netzwerke und Organisationen – die Grundlagen, um sich gegenüber dem indischen Staat und Wirtschaftsakteur*innen zu behaupten und Rechte einzufordern.

Der Umgang mit Kultur

Hier allerdings liegt gleichsam der Kern aller Schwierigkeiten der beschriebenen Entwicklungsarbeit. Gefangen in festgefahrenen Verhaltensmustern, Normalitätsvorstellungen und Erwartungen sehen Eltern keinen Wert in Bildung und dem Aufwand, ihre Kinder regelmäßig in die Schule zu schicken. Und der Bundesstaat finanziert Schulen nur, solange regelmäßig eine Mindestanzahl an Schüler*innen anwesend ist. Medikamente werden kritisch beäugt und als Hexenwerk abgetan. Hier können nur Vertrauenspersonen etwas erreichen und es braucht lange Jahre, um dieses Vertrauen aufzubauen.

Und viel Kreativität! „Die Leute hier haben keine Lust zu lesen oder lange Reden zu hören. Aber sie lieben es zu singen und zu tanzen!“, sagt Mitarbeiterin Shilpa Vaishnav, „also haben wir selbst angefangen, Lieder zu schreiben – über Bildung, Gewaltfreiheit und die Gefahren des Alkohols. Und wir singen bekannte Lieder wie ‚We shall overcome‘ oder ‚Jai Jagat‘ von Vinoba Bhave“. Nach vielen Jahren und zwei größeren Versammlungen der Stammesgemeinschaften haben 4.000 Männer schließlich geschworen, nie wieder Alkohol zu trinken. Die Lieder und Tänze werden in ihren Wiederholungen Teil der lokalen Kultur und prägen die Wertebasis. Wenn in der Internatsschule des Samvedana Trusts jeden Abend Gebete und Lieder gesungen werden, wird das moralische Bewusstsein der nächsten Generation geformt, nicht auf einer intellektuell-rationalen, sondern auf einer unterbewussten, emotionalen Ebene.

Der Umgang mit Gewalt

Doch Gewalt zerreißt so schnell, was mühsam aufgebaut wurde, und zerstört die Grundlagen des Friedens. Hasmukh Patel erzählt und nimmt uns mit in eine Zeit, als die Arbeit des Samvedana Trusts auf Messers Schneide stand: Beim Bau eines der Staudämme stirbt ein Bauarbeiter und ein weiterer ist verletzt. Beide sind Mitglieder der indigenen Gemeinschaften und schnell bestärkt sich das Gefühl, dass die Ingenieure, die von außen kommen und den Bau anleiten, für den Tod der Männer verantwortlich sind. Die Gemeinschaften sind in Aufruhr und schwören Rache zu nehmen für den ungerechten ‚Mord‘. Die Unterstützung für die Region, das Projekt der Staudämme, die künftige Ernährungssicherheit – alles spielt keine Rolle mehr, denn ein Angriff auf ein Mitglied, ist ein Angriff auf alle.

Hier sollte Bild 4 zu sehen sein. Es zeigt die Straße in Banaskantha, an der der Samvedana Trust seinen Sitz hat
Eine Straße am Sitz des Samevadana Trusts in Virampur (Foto: Kevin Kaisig)

Hasmukh Patel eilt an den Ort des Geschehens, sobald er von dem Zwischenfall hört. Er kommt fast zeitgleich mit einer Gruppe von 15 Männern an, die der betroffenen Gemeinschaft angehören. Ihre Gesichter sind verhärtet, sie sind zum Äußersten bereit. Als sie Hasmukh Patel sehen, zögern sie einen Moment und er stellt sich ihnen in den Weg. Stimmung und Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Patel bleibt ruhig und sagt: „Ich weiß, warum ihr hier seid. Ich bin verantwortlich für das, was geschehen ist. Ihr könnt mich in Stücke schneiden, aber verschont meine Kollegen“. Die Gruppe schweigt. Hasmukh Patel und die zu treffende Entscheidung lässt den Widerspruch zwischen grundsätzlichen Wertvorstellungen so klar erscheinen wie nie zuvor. Seit mehreren Jahren lebt Patel in der Region und hat so vielen geholfen, ja das Leben gerettet. Doch Rache ist Rache. Es muss eine vollkommen neue Entscheidung getroffen werden, alles ist anders. Schließlich geht ein Ruck durch einen der Männer und er sagt: „Nein, wir sind nur gekommen, euch zu warnen“.

Es war das erste Mal in der Geschichte der Gemeinschaften, dass bei einem vergleichbaren Todesfall keine Rache geübt wurde, erinnert sich Hasmukh Patel. „Unsere Aufgabe ist es, durch gemeinnützige Arbeit das Herz der Leute zu erreichen. Wenn du ihnen zu Herzen gehst, kann viel verändert werden“.

Ausblick

Und tatsächlich: im Jahr 2002 gelang es, eine Versammlung unter jungen Mitgliedern der indigenen Gemeinschaften zu organisieren. Die Versammlung verabschiedete eine Resolution zur Überwindung der Rache. Für den Frieden darf es keine Verpflichtung zur Rache geben, keine brennenden Häuser, keine abgeschlachteten Tiere und kein Töten. „Wir müssen irgendwo beginnen“, sagt Patel, „das ist keine Arbeit, die du in einer Lebenszeit beenden könntest“. Der Samvedana Trust ist weiterhin in Virampur vor Ort und führt seine Arbeit fort. Es gibt eine Kooperation mit UNICEF und David Beckham war letztes Jahr zu Besuch. Freiwillige aus aller Welt können sich zur Unterstützung und zum kulturellen Austausch in das Projekt einbringen. Die aufwartende reiche Erfahrung und das Wissen zu Gewaltfreiheit, Konflikttransformation und Frieden werden heute dringlicher gebraucht denn je.

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