„Niemand sollte jemals so leiden wie wir“ – Friedenserklärung der Stadt Hiroshima vom 6. August 2024

Die Stadt Hiroshima, die erste Stadt auf dieser Welt, die vom Abwurf einer Atombombe verwüstet und verstrahlt wurde, hat eine eindrucksvolle Friedenserklärung abgegeben, die wir an dieser Stelle dokumentieren wollen.
Das Titelbild zeigt das Friedensdenkmal in Hiroshima, den Genbaku-Dom
Das Friedensdenkmal in Hiroshima, der Genbaku-Dom (Foto: CC BY 2.5)

von Kazumi Matsui, Bürgermeister von Hiroshima

Friedenserklärung von Bürgermeister Kazumi Matsui, Hiroshima, 6. August 2024

Bürger*innen der Welt, was denken Sie?
Sind stärkere Nuklearstreitkräfte für die nationale Sicherheit notwendig?
Was denken Sie über das Wettrüsten, bei dem es um die Aufrechterhaltung der Überlegenheit gegenüber anderen Nationen geht?

Russlands andauernder Einmarsch in der Ukraine und die sich zuspitzende Situation zwischen Israel und Palästina fordern das Leben zahlloser unschuldiger Menschen und bringen das normale Leben aus dem Gleichgewicht.

Ich habe den Eindruck, dass diese globalen Tragödien das Misstrauen und die Angst zwischen den Nationen vertiefen und die öffentliche Annahme verstärken, dass wir zur Lösung internationaler Probleme auf militärische Gewalt zurückgreifen müssten, was wir eigentlich ablehnen sollten.

Wie können Nationen unter solchen Umständen ihren Bürgern Sicherheit bieten?

Ist das nicht unmöglich?

Der Friedensgedenk-Park in Hiroshima

Durch die Säulen unter dem Friedensgedenk-Museum können wir das Ehrengrabmal (Kenotaph) für die Opfer der A-Bombe sehen. Wer am Kenotaph betet, kann durch ihn hindurch direkt auf die Atombombenkuppel blicken.

Der Friedensgedenk-Park mit diesen Bauwerken auf seiner Nord-Süd-Achse wurde nach dem Gesetz zur Einrichtung des Friedensparks Hiroshima errichtet, das heute vor fünfundsiebzig Jahren in Kraft trat.

Er wurde von den Einwohner*innen Hiroshimas und vielen anderen Friedenssuchenden errichtet und ist zu einem Ort geworden, an dem man der Opfer gedenkt und über den Frieden nachdenkt, miteinander spricht und sich gegenseitig Versprechen gibt.

Das Foto 1 zeigt das sogenannte Kenotaph, das Ehrengrabmal, im Friedengedenk-Park von Hiroshima.
Das Ehrengrabmal, das sogenannte Kenotaph, mit Blick auf den Genbaku-Dom im Friedensgedenk-Park in Hiroshima (Foto: Balon Greyjoy, CC0]

Hätte Japan nach dem Krieg seine Friedensverfassung aufgegeben und sich auf den Wiederaufbau des Militärs konzentriert, gäbe es die Stadt des Friedens, die Hiroshima heute ist, nicht.

Wenn wir hier stehen, können wir alle die Entschlossenheit unserer Vorgänger spüren, die Geißel des Krieges zu beseitigen, im Vertrauen auf die Gerechtigkeit und den Glauben der friedliebenden Menschen in aller Welt.

Das Vermächtnis eines Hibakusha

Ein Hibakusha, ein Überlebender des Atombombenabwurfs, brachte diese Entschlossenheit zum Ausdruck und bekräftigte den Geist von Hiroshima:

Das Bild zeigt die durch die Atombombe verbrannten Beine eines Menschen.
Verbrennungen durch die Atombombe (Otis Historical Archives of “National Museum of Health & Medicine” (OTIS Archive 1, Public Domain)

Dieser erhebende Satz wurden von einem Mann geschrieben, der als 14-jähriger Junge Szenen aus einer lebenden Hölle sah:

Ein Baby, dessen Haut bis auf das rohe Fleisch abgezogen war. Daneben seine Mutter, die von Kopf bis Fuß verbrannt war. Und eine Leiche, deren Eingeweide auf dem Boden verstreut waren.

Atomare Abrüstung gegen Ende des Kalten Krieges

1989 brachte eine massive Volksbewegung für Demokratie die Berliner Mauer zum Einsturz, das vorherrschende Symbol des Kalten Krieges.

Präsident Gorbatschow brachte das kollektive Bedürfnis der Menschheit nach Frieden und seine Entschlossenheit zum Ausdruck, das Wettrüsten zu stoppen, den nuklearen Terror zu beenden, die Atomwaffen auszumerzen und unnachgiebig politische Lösungen für regionale Konflikte zu verfolgen. Er und Präsident Reagan arbeiteten im Dialog zusammen, um den Kalten Krieg zu beenden, was dazu führte, dass die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion den INF-Vertrag über die Verringerung strategischer Nuklearwaffen abschlossen.

Sie haben gezeigt, dass politische Entscheidungsträger selbst kritische Situationen durch entschlossenes Engagement für den Dialog überwinden können.

Hoffnung schöpfen

Lassen Sie uns angesichts der chaotischen Weltlage nicht in Pessimismus verfallen.

Lassen Sie uns stattdessen die gleiche Entschlossenheit an den Tag legen wie unsere Vorfahren und gemeinsam, mit Hoffnung im Herzen, handeln.

Unsere Einigkeit wird die Oberhäupter, die sich jetzt auf die nukleare Abschreckung verlassen, dazu bewegen, ihre Politik zu ändern.

Wir könnten das bewirken.

Austausch und Dialog von Hiroshima in die Welt

Um das Misstrauen und die Zweifel, die zu Konflikten führen, auszulöschen, muss die Zivilgesellschaft durch Austausch und Dialog mit Rücksicht auf andere einen Kreis des Vertrauens schaffen. Wir müssen das Gefühl der Sicherheit, das wir in unserem täglichen Leben empfinden, über die nationalen Grenzen hinaus verbreiten. Der entscheidende Schritt dabei ist, die Erfahrungen und Werte der anderen durch Musik, Kunst, Sport und andere Interaktionen zu teilen und sich in sie einzufühlen. Lassen Sie uns durch einen solchen Austausch eine Welt schaffen, in der wir alle die Kultur des Friedens teilen.

Insbesondere rufe ich unsere Jugend, die die künftigen Generationen anführen wird, auf, Hiroshima zu besuchen und sich das hier Erlebte zu Herzen zu nehmen und einen Freundschaftskreis mit Menschen aller Altersgruppen zu bilden. Ich hoffe, sie werden darüber nachdenken, was sie jetzt tun können, und gemeinsam handeln, um ihren Kreis der Hoffnung zu erweitern.

Die Stadt Hiroshima wird in Zusammenarbeit mit der Organisation Mayors for Peace, der inzwischen mehr als 8.400 Mitgliedsstädte in 166 Ländern und Regionen angehören, aktiv kommunale Bemühungen zur Stärkung des Friedensbewusstseins unterstützen.

Im vergangenen Jahr haben etwa 1,98 Millionen Menschen aus aller Welt das Friedensgedenk-Museum in Hiroshima besucht. Diese Rekordzahl zeugt von einem noch nie dagewesenen Interesse an der atomar bombardierten Stadt und von einem wachsenden Friedensbewusstsein.

Botschaft an die Regierenden der Welt: Schafft die Atomwaffen ab!

Ich hoffe, dass alle Regierenden der Welt Hiroshima besuchen, den Willen der Zivilgesellschaft erfahren, ein tieferes Verständnis für den Atombombenabwurf erlangen und sich die Bitte der Hibakusha zu Herzen nehmen: „Niemand sollte jemals so leiden wie wir.“

Dann hoffe ich, dass sie, während sie hier sind, mit eiserner Entschlossenheit einen zwingenden Aufruf zur Abschaffung von Atomwaffen ergehen lassen werden.

Zweimal hintereinander ist es der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag (NVV) nicht gelungen, ein Abschlussdokument zu verabschieden. Diese Misserfolge haben eine harte Realität offenbart, nämlich die enormen Unterschiede zwischen den Ländern in Bezug auf Atomwaffen.

Ich hoffe, dass die japanische Regierung, die wiederholt erklärt hat, dass der Nichtverbreitungsvertrag für sie der Eckpfeiler des internationalen Systems der nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung ist, eine starke Führungsrolle übernimmt und alle Länder dazu aufruft, ihre Positionen zu überwinden und einen konstruktiven Dialog zu führen, um eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen.

Darüber hinaus fordere ich Japan auf, als praktische Maßnahme auf dem Weg zu einer atomwaffenfreien Welt als Beobachter an der dritten Tagung der Vertragsstaaten des Vertrags über das Verbot von Kernwaffen teilzunehmen, die im März nächsten Jahres stattfinden wird. Anschließend und so bald wie möglich muss Japan dem Vertrag beitreten.

Darüber hinaus fordere ich die japanische Regierung auf, die Maßnahmen zur Unterstützung der Hibakusha zu verstärken, einschließlich derjenigen, die außerhalb Japans leben. Jetzt, da das Durchschnittsalter der Hibakusha 85 Jahre überschritten hat, muss die Regierung akzeptieren, dass sie immer noch unter den zahlreichen negativen emotionalen und physischen Auswirkungen der Strahlung leiden.

Heute, bei dieser Friedensgedenkfeier anlässlich des 79. Jahrestages des Bombenabwurfs, sprechen wir den Seelen der Atombombenopfer unser tiefstes Beileid aus. Gemeinsam mit Nagasaki und Gleichgesinnten in der ganzen Welt erinnern wir uns an den Kampf der Hibakusha und verpflichten uns, alle Anstrengungen zu unternehmen, um Atomwaffen abzuschaffen und den Weg für einen dauerhaften Weltfrieden zu ebnen.

Bürger*innen der Welt, lasst uns alle, mit Hoffnung im Herzen, mit Hiroshima dem Frieden von morgen entgegengehen.

Bürgermeister Kazumi Matsui für die Stadt Hiroshima

Zum Autor

Kazumi Matsui, geb. 1953, ist der Sohn von Hibakusha. Seit 2011 ist er der Bürgermeister von Hiroshima und wurde 2015, 2019 und 2023 wiedergewählt. Er wurde und wird politisch von der Liberal-Demokratischen Partei und der konservativen Partei ‚New Komeito‘ unterstützt.

Zudem ist er der Präsident von Mayors for Peace.

Hinweis der Redaktion

Auf Englisch findet sich die Friedenserklärung auf der Webseite der Stadt Hiroshima.

Das Video, in dem Hiroshimas Bürgermeister, Kazumi Matsui, die Friedenserklärung verliest, findet sich hier. 

Die deutsche Übersetzung ist von der gesamten Redaktion (mit Unterstützung von DeepL).

Mit der Veröffentlichung dieses Textes sowie dem Beitrag von Gerd Büntzly  und Ria Makein beteiligt sich die ga-Redaktion im Gedenken an Hiroshima und Nagasaki an den weltweiten Mahnwachen in und außerhalb von Gefängnissen.

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