Teil 1
Wer hätte das gedacht? Keiner! Weder Politiker*innen noch politisch wissenschaftlich Tätige – niemand hatte es vorhergesehen. Und dabei veränderten die Ereignisse im Herbst 1989 in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) die Weltgeschichte! Es wird gesagt: Neben anderen Gründen spielte aktive Gewaltfreiheit eine wesentliche Rolle.
Stimmt das? Gewaltfrei im Familienkreis: ja das können wir – besser gesagt: wollen wir lernen und erleben es auch, wenn wir Glück haben. Aber in der Politik erleben wir doch weithin etwas ganz anderes. Hat es in der „großen Politik“ wirklich bedeutende Veränderungen gegeben ohne Anwendung Gewalt? Gandhi, ja, der ist bekannt, hatte aber auch Glück mit den Briten als Gegnern in der Kolonialpolitik: Engländer sind eben Gentlemen. Gewaltfreier Umgang miteinander unter Freunden und in der Familie: ja – aber gewaltfrei wirken in der ‚großen Politik‘??
Was genau lief ab im Herbst 89? Was für „gewaltfreie“ Sachen machten die Leute? Wie trugen diese dazu bei, dass die DDR-Diktatur endete?
Ich habe mich mit diesen Fragen gründlich beschäftigt und zeige auf, wie die Ereignisse im Zusammenhang mit Gandhis Streitkunst zu verstehen sind. Ich wechsele dabei zwischen allgemeineren Informationen und Berichten über Leipzig.
In vier Folgen, die auf dieser Seite zusammengefasst sind, zeige ich zunächst die wesentlichen historischen Ereignisse im Zusammenhang mit den Friedensgebeten bis zum Oktober 1989 auf. Danach analysiere ich die gewaltfreien Aktivitäten anhand von zur Gütekraft. So werden handlungsleitende Elemente sichtbar, die auch in anderen Zusammenhängen eine Rolle spielen können. Den Schluss bildet ein Abschnitt zur Bedeutung dieser Ereignisse.
Wie kann gewaltfreies Vorgehen zu politischem Erfolg führen?
Einer der Gründe: Die Kraft aktiver Gewaltfreiheit traut allen Menschen ausdauernd Gutes zu, auch gegen den anfänglichen Augenschein. Sie „ist so alt wie die Menschheit“ (Gandhi) und ihr globales Erbe. Sie hat viele Namen: „Strength to love – Stärke zu lieben“ (Martin Luther King), „force de la justice – Kraft der Gerechtigkeit“ (Lanza del Vasto), „firmeza permanente – dauernde Festigkeit“ (Lateinamerika), „Alay Dangal – Würde anbieten“ (Philippinen), „satyagraha – Festhalten an der Wahrheit“ (Gandhi), der Inder erklärte seinen neuen Begriff als „Kraft, die aus Wahrheit und Liebe entsteht“ – „Gütekraft“ finde ich eine passende Übersetzung und benenne die Kraft aktiver Gewaltfreiheit im Folgenden mit diesem Begriff.
Gandhi benutzte auch das englische non-violence, Nicht-Gewalt, Gewaltlosigkeit, Gewaltfreiheit, es ist die wörtliche Übersetzung des indischen ahimsa. Diese uralte Tradition bezeichnet damit eine besondere Stärke; diese meinte Gandhi. Weil im Westen dagegen Gewalt weithin als das Stärkste gilt, wird Gewaltlosigkeit, Gewaltfreiheit, oft als schwach missverstanden, als reines Nicht-Tun, nicht Gewalt anwenden. Darum ist es hier wichtig, den Kraft-Aspekt hervorzuheben. Es geht um aktives konzeptionelles Handeln, das Veränderungen gestaltet.
Bis heute werden bürgerschaftliche Aktivitäten, die von der Tradition aktiver Gewaltfreiheit inspiriert sind, kaum als stark oder politisch bedeutsam ernstgenommen (zumal, wenn sie mit Religion zusammenhängen).
Dass dadurch Wirklichkeit ausgeblendet wird, belegt eine preisgekrönte Studie, die zeigte: Die ohne oder mit wenig Waffengewalt begonnenen Aufstände von 1900 bis 2006 waren anteilig doppelt so oft erfolgreich wie die Erhebungen mit Waffen (Chenoweth & Stephan: „Why Civil Resistance Works”, 2011). Und auch Deutschland hat hautnah erlebt, wie eine Diktatur auf gewaltfreie Weise beendet wurde. Von dieser wunderbaren Erfahrung ist viel zu lernen, auch heute!
Was bis zum Oktober 1989 geschah
Die sogenannte Diktatur des Proletariats (Selbstbezeichnung) der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) führte gegen politisch missliebige Personen im ganzen Land vielfältige Unterdrückungsmaßnahmen durch. Sie endete im Herbst 1989. Dieses Ende hatte viele Ursachen. Zu ihnen gehören Einflüsse von außen und von innen, darunter wirtschaftliche Schwierigkeiten, die Unzufriedenheit im Volk erzeugten oder verstärkten, angefeuert durch Informationen aus dem Westfernsehen über ‚das Leben in Freiheit‘ in der Bundesrepublik Deutschland (BRD). Auch die liberale Einstellung des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), Michail Gorbatschow, in Moskau spielte im Hintergrund eine wichtige Rolle und ebenso das politische Rumoren in Nachbarstaaten, etwa in Polen durch die Gewerkschaft Solidarność. Die Friedensgebete in der DDR trugen schließlich entscheidend zum Erfolg der Friedlichen Revolution bei. Sie mobilisierten die Kraft zur Veränderung.
Schon vor 1989 gab es in der gesamten DDR einen gesellschaftlich-politischen Aufbruch, der sich an vielen Orten öffentlich zeigte, so auch in den Friedensgebeten. Die Betenden fühlten sich von der sie immer wieder stärkenden Beziehung zu Gott getragen. Das war entscheidend für die Bewusstseins- und Netzwerkbildung. Später bedeuteten u.a. die Ökumenischen Versammlungen 1988/89 in der DDR mit ihrem Eintreten für „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ sowie kirchliche Impulse aus dem europäischen Ausland weitere wichtige Schritte zur Verbreiterung dieses Prozesses.
Besonders bekannt geworden sind die Leipziger Gebete jeden Montag um 17 Uhr. Neben den vielen Friedensgebeten in anderen Städten trugen gerade sie wesentlich zur Friedlichen Revolution bei. Entscheidenden Einfluss hatte in Leipzig eine Kerngruppe von Menschen, die beharrlich und allen Widerständen zum Trotz ein starkes, zivilgesellschaftliches Netzwerk aufbauten. Sie bestand aus denen, die das Friedensgebet in der Nikolaikirche montags um 17 Uhr gestalteten, seit 1982 zunächst unter der Leitung von Pfarrer Christoph Wonneberger, später unter Pfarrer Christian Führer. Die Leipziger Pfarrer, der Gemeinderat und Menschen auf höherer kirchlicher Ebene unterstützten und schützten die Gebete mit Mühe gegen staatliche Angriffe.
In der ganzen DDR, auch in Leipzig, wurde die freie Meinungsäußerung der Menschen unterdrückt. Außerdem wurden Tausende Ausreisewillige gesellschaftlich ausgegrenzt. Viele waren empört, viele hatten resigniert. In kirchlicher Wahrnehmung gehörten sie damit zu den „Mühseligen und Beladenen“, für die Jesus gekommen war und für die daher die Kirche zuständig war. Für diese Menschen wurde die Nikolaikirche – getreu ihrem Motto am Portal: „offen für alle“ – zu einem Raum für freie Begegnung und freies Gespräch. Die Friedensgebete wurden von den teilnehmenden zivilgesellschaftlichen Gruppen gestaltet – ein wichtiges Strukturelement. Damit fanden die Inhalte und Gespräche der Zivilgesellschaft einen kirchen-öffentlichen, offiziellen Ausdruck. Die Friedensgebete boten dem freien Dialog über Politik und Gesellschaft, den die DDR-Politik zu verhindern suchte, einen gewissen Schutzraum und eine Quasi-Öffentlichkeit, in der er begonnen werden konnte.
Pfarrer Christian Führer schreibt in seinem Buch „Und wir sind dabei gewesen – Die Revolution, die aus der Kirche kam (2010)“: Beim Beten wurden – dem staatlichen Druck zum Trotz – bestimmte Grundsätze beachtet.
Die Gebete sollten:
- im Geist der Versöhnung geschehen,
- sich nicht auf Wirklichkeitsbeschreibungen beschränken, die in Ausweglosigkeit enden,
- konstruktive Handlungsmöglichkeiten aufzeigen,
- keine Herabwürdigung von Personen beinhalten – gewaltfreies Handeln vermeidet auch verbale Gewalt,
- ungeschminkten, ehrlichen Zeugnissen der Betroffenheit in Trauer und Wut ohne „die unerträgliche Ausgewogenheit vieler kirchlicher Verlautbarungen“ einen Raum bieten,
- das wahrheitsgemäße Aufdecken von Unrecht anstreben.
Das Gespräch und das Gebet in dieser Atmosphäre wurden allmählich zur Gewohnheit. Sie veränderten die Beteiligten. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit nahmen ab. Die Anliegen „vor Gott zu bringen“, entlastete von der Vorstellung, vereinzelt zu sein, alles allein machen zu müssen und damit von eigener Überforderung. Es ermöglichte Hoffnung durch die Befreiung vom Fatalismus und durch die Eröffnung einer realistischeren Beurteilung der Lage: jede Lage ist zukunftsoffen. Die veränderten Menschen fassten Vertrauen in die Zukunft, anstatt in Wut oder in Angst zu versinken. Immer mehr Menschen kamen bewusst in diesem Geist zusammen und gaben ihm Ausdruck, machten ihn stark. So wuchsen Vertrauen, Mut und Hoffnung auf die Zukunft; das war ansteckend.
Wie stark im Laufe von Wochen, Monaten und Jahren Hoffnung und Mut bei vielen geworden waren, zeigte sich am 9. Oktober.
Teil 2: Die Ereignisse vom 9. Oktober 1989
Am 7. Oktober hatte die DDR-Führung das 40jährige Bestehen des Staates gefeiert. Dabei hatte sie wie bereits an einigen Montagen zuvor Skrupellosigkeit demonstriert, indem sie nicht nur auf Demonstrierende, sondern auch auf Passant*innen, die zufällig vor der Nikolaikirche vorbeigingen, einprügeln und einige von ihnen hatte einsperren lassen – offensichtlich zur Einschüchterung. Denn seit einiger Zeit versammelten sich vor der Kirche in Leipzig regelmäßig nach dem Gebet immer mehr Menschen, diskutierten und demonstrierten öffentlich.
Am 9. Oktober sollte „dem Spuk ein Ende bereitet werden“ – so die Anweisung des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker. Wenige Monate zuvor hatte die Pekinger Führung auf dem Platz des Himmlischen Friedens die für Freiheit demonstrierenden Massen grausam umbringen lassen und die DDR-Regierung hatte ihre Zustimmung erklärt. Nun wurden in Leipzig Polizei, Soldaten und Betriebskampfgruppen aufgestellt, 8.000 Bewaffnete standen bereit. Große Mengen Blutkonserven wurden in Leipziger Krankenhäusern bereitgehalten. Betriebe, Kindergärten und Schulen mussten früher als sonst schließen. Die Bevölkerung wurde davor gewarnt, am Nachmittag auf die Straße zu gehen. Die Kirche, ja die ganze Stadt standen unter starkem Druck.
In dieser Situation geschürter Angst und äußerster Anspannung behielten viele Menschen das Vertrauen in die Zukunft und den Mut, die in den Gesprächen und Gebeten gewachsen waren. Den offenen Dialog zu führen, diesen in der Öffentlichkeit zu fordern und gleichzeitig Gewalt ausdrücklich abzulehnen, hatte Tausende inspiriert. Eltern, die trotz der Massenmord-Drohungen am Friedensgebet teilnahmen, trafen Vorkehrungen für den Fall, dass sie nicht wieder nach Hause kommen würden: Sie regelten, wer dann für ihre Kinder sorgen würde.
Die Nikolaikirche fasste schon vor dem 9. Oktober die Massen nicht mehr. Daher wurde gleichzeitig auch in anderen Kirchen für Frieden gebetet.
Um am Entscheidungstag wirklich Interessierten möglichst wenig Platz zu lassen, kamen Stunden vor Beginn tausend Funktionäre der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in die Nikolaikirche. Christian Führer bezeichnete dies „als einen besonders humorvollen Schachzug Gottes“. Denn auch die Funktionäre hörten nun die gütekräftige Botschaft der Friedensgebete von der Gewaltfreiheit – und auch sie hielten sich hinterher an die Bitte „Nehmt die Gewaltlosigkeit aus der Kirche mit hinaus auf die Straßen und Plätze!“
Denn, so formulierte es Christian Führer: „Straße und Kirche gehören zusammen!“ In den Kirchen war die Atmosphäre christlich-gütekräftig. In den Kirchen und im Rundfunk wurde der „Aufruf der Sechs“ verlesen. Es war ein Aufruf sechs angesehener Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, darunter dreier SED-Sekretäre, die sich – wie vorher nur die Protestierenden – nun auch für den Dialog mit der Staatsführung einsetzten. Sie sympathisierten offensichtlich mit den Demonstrierenden.
Nach dem Gebet strömten insgesamt 70.000 friedlich Demonstrierende, viele mit Kerzen in den Händen, auf den Leipziger Ring. Dort wurde schon Stunden zuvor ein illegal gedruckter „Appell“ zur Gewaltlosigkeit massenhaft verteilt – auch an Bewaffnete. Vereinzelte Provokationen durch Demonstrierende wurden von anderen niedergehalten.
Die politische Führung, die geglaubt hatte, sie könnte durch ihre ‚Sicherheitskräfte‘ die Sache beenden, hatte für den 9. Oktober nicht mit solchen Massen, die sich nicht einschüchtern ließen, gerechnet. Sie war „auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete.“ Fieberhafte Beratungen, auch telefonisch mit dem Innenministerium in Berlin, führten zu keiner Entscheidung. Weder Festnahmen noch der Einsatz von Schlagstöcken oder Schusswaffen wurden befohlen. Dass – anders als am 17. Juni 1953 – im Hintergrund keine sowjetischen Panzer bereitstanden, dürfte dazu beigetragen haben.
So wurde manifest: Die SED-Führungsriege war tief verunsichert. Diese Verunsicherung zeigte sich bereits vorher durch ihren Befehl an die tausend Funktionäre, ohne Uniform in die Nikolaikirche zu gehen. Denn das hatte auch zur Folge, dass die ‚Sicherheitskräfte‘, als alle die Kirche verließen, nicht ‚Freund‘ von ‚Feind‘ unterscheiden konnten. Unbekannt ist, ob auch dies ein Grund für das Ausbleiben des Schießbefehls war.
„Die Nachricht, dass die Demonstration in Leipzig friedlich verlaufen war, löste in der gesamten DDR eine kaum zu beschreibende Freude aus.“ In den nun folgenden Wochen versammelten sich im ganzen Land Hunderttausende in aller Öffentlichkeit, oftmals im Zusammenhang mit Friedensgebeten. Die Demonstrationen wurden vom Staat geduldet. Die Verunsicherung der Führungselite wurde schließlich so stark, dass sie praktisch handlungsunfähig wurde und der Staat zusammenbrach. Am 9. Oktober 1989 hatten damit in Leipzig 70.000 Menschen mit Gütekraft das Tor zu massenhaften Demonstrationen in der DDR und zur Überwindung der Diktatur aufgestoßen.
Wie dabei die Gütekraft im Einzelnen zur Wirkung kam, davon handelt Teil 3.
Teil 3: Die Wirkung der Gütekraft in der DDR
Der folgende Abschnitt zeigt, wie die Ereignisse in der DDR aus Sicht der Gütekraft verstanden und erklärt werden können. Durch gütekräftigen Einsatz bauen Menschen soziale Missstände ab, ein grundsätzlich normaler Vorgang, der allerdings als Wunder erlebt werden kann. In der Regel kommt der Erfolg durch drei Haupt-Wirkungsweisen des gütekräftigen Vorgehens zustande:
1.) Selbstbeginnen,
2.) Resonanz oder Anstecken anderer und
3.) Nichtzusammenarbeit mit dem Missstand.
Diese werden kursiv allgemein beschrieben und in Normalschrift, wie sie 1989 wirkten.
Die friedliche Revolution – ein Wunder?
Viele, die dabei waren, erlebten die Ereignisse in der DDR als Wunder, als Geschenk Gottes, als Erhörung ihrer Gebete. „Gebete ändern die Welt nicht. Aber Gebete ändern die Menschen. Und die Menschen verändern die Welt“ (Albert Schweitzer).
Dafür, wie die Gebete zur Friedlichen Revolution wesentlich beitrugen, braucht es keine übernatürliche Erklärung, etwa als direktes Eingreifen Gottes neben menschlichem Handeln. Wunder sind zwar nicht erzwingbar – sie sind und bleiben Wunder – sie können aber durch menschliches Handeln wahrscheinlicher werden. Das gilt für das Handeln religiöser wie nicht religiöser Menschen. Der nicht religiöse Michail Gorbatschow wurde in der DDR mit dem Nichtjuden Kyros verglichen, der 539 v.Chr. das jüdische Volk aus der Verbannung zurückkehren ließ – nach biblischer Aussage handelte er so im Dienste Gottes. Auch das Auftreten Gorbatschows wurde als Wunder gesehen.
Gutes Tun ist eine Möglichkeit aller Menschen, die Kraft zum Guten, Gütekraft steckt in uns allen. Sie kann als Gottes Kraft, als Kraft des Heiligen Geistes gesehen werden. In der Bibel heißt es: der Geist „weht, wo er will“, und auch gütekräftiges Vorgehen darf nicht mechanistisch missverstanden werden. Es gibt – ebenso wenig wie bei anderen Vorgehensweisen – keine Erfolgsgarantie.
Beten ist allgemein bei gütekräftigem Vorgehen nicht erforderlich. Allerdings hat die Beziehung zu Gott vielen Menschen wichtigen Halt gegeben. Beten kann förderlich sein.
Der soziale Missstand der Diktatur und gesellschaftlicher Wandel
In der ‚Diktatur des Proletariats‘ war der totalitäre Anspruch des Staates der Hintergrund für die Unterdrückung freier Meinungsäußerungen und für die Ausgrenzung Ausreisewilliger. Der staatliche Totalitätsanspruch war, viele sahen das deutlich, der eigentliche Missstand.
Unter ihm litten große Teile der Bevölkerung mehr oder weniger, sicherlich auch Mitglieder der SED, von denen viele aus beruflichen Gründen und nicht aus Überzeugung eingetreten waren, sowie diejenigen, die in ihrer Auffassung von Kommunismus von der offiziellen Linie abwichen und ‚immanente Kritik‘ übten.
Allgemein verhinderte dieser Totalitätsanspruch der DDR-Politik den freien Dialog über Politik und Gesellschaft. Christ*innen bestritten die Berechtigung dieses Anspruchs. Die Kirche stellte einen Raum für freie Begegnungen und unzensiertes Gespräch zur Verfügung. Dadurch begann sie im eigenen Einflussbereich damit, den Missstand an Ort und Stelle abzubauen und eine andere Art des gesellschaftlichen Miteinanders vorzuleben. Durch die Friedensgebete geschah dies quasi-öffentlich in einem gewissen Schutzraum. Dieser konnte auch gegen massive Angriffe des Staates erhalten werden und der Dialog wurde fortgesetzt.
Die Wirkungsweisen gütekräftigen Vorgehens
- Gütekräftiges Wirken: Selbstbeginnen.
Die angestrebte Veränderung wird in dem Maß, wie es mit den eigenen Kräften möglich ist, ansatzweise bereits verwirklicht und der Abbau des Missstandes beginntbereits. Das eigene Tun, auch wenn es nur wenig ändern kann, hat Wirkung. Es zeugt von innerer Stärke und ist viel kraftvoller, als einfach nur Forderungen an andere zu richten. Es kennzeichnet die erste Wirkungsweise des gütekräftigen Vorgehens.
Zunächst nutzten diejenigen den kirchlichen Raum, die aus ihrem Nicht-Einverstanden-Sein mit der öffentlichen Ordnung schon persönliche, riskante Folgerungen gezogen hatten: vor allem protestierende Jugendliche und Ausreiseantragsteller*innen.
Das freie Gespräch und für viele die Beziehung zu Gott verschafften ihnen eine persönliche mentale Entlastung von dem Druck, unter dem sie zwar ununterbrochen standen, und eröffneten ihnen einen neuen Lebensraum. Das Selbstbeginnen bestand also darin, Räume für den offenen Dialog zu suchen, zu schaffen und die Institution der Friedensgebiete zu gründen – und für die Hinzukommenden, diese auch zu nutzen.
Nach einiger Zeit kamen mehr Unzufriedene zu den Friedensgebeten. Und schon bald wurden auch Menschen, die noch nicht persönliche Konsequenzen aus dem Leiden am Missstand gezogen hatten, durch die Vorangehenden zur montäglichen Teilnahme angeregt. Das Selbst-Beginnen im neuen, freieren Lebensraum wirkte ansteckend.
- Gütekräftiges Wirken: Resonanz, Anstecken anderer
Nicht nur die anfangs Engagierten, sondern auch andere Personen ändern ihr Handeln.
Gütekraft ist eine Möglichkeit für jeden Menschen. Alle können Gutes tun. Ebenso wie wir alle wohlwollend und gerecht behandelt werden wollen, haben wir alle bewusst oder unbewusst die Neigung, anderen mit Wohlwollen und Gerechtigkeit zu begegnen. Diese Neigung kommt aus der elementaren Verbundenheit aller. Neurolog*innen zeigen, dass wir Verbundenheit bereits vor der Geburt erfahren und als positive Grunderfahrung mit auf die Welt bringen. Die Neigung zu helfen ist angeboren. Sie ist schon bei Kleinkindern und auch bei Schimpansen zu beobachten, wie der Verhaltensforscher Michael Tomasello herausfand.
Wenn dieses Potenzial das Handeln aktuell nicht bestimmt, kann es geweckt werden – bei allen Menschen. Die oben erwähnten Grundsätze der Friedensgebete zu beachten ist typisch nicht nur für den christlichen Umgang mit Problemen, sondern auch allgemein für gütekräftiges Handeln. Je klarer danach gehandelt wird, desto größer ist die Aussicht auf Ansteckung, auf eine positive Wirkung. Diese Resonanz kommt zum Beispiel zustande, wenn es gelingt, an einem Missstand Beteiligte in ihrem Gewissen anzusprechen, oder wenn andere Gründe diese Personen innehalten lassen. Dies ist häufig dann der Fall, wenn sie wahrnehmen, wie sich Menschen aktiv für Verbesserungen einsetzen und mit dem Abbau eines Missstandes beginnen, besonders dann, wenn dieses Handeln mit persönlichen Kosten oder Risiken verbunden ist und daher persönlich beeindruckt. Solche Taten bringen die Gütekraft-Potenz in den beobachtenden Personen zum Mitschwingen, sie regen sie so zu eigenem Tun an, sie ‚stecken an‘. Ob diese Anregung zur Tat führt, hängt dann jeweils von weiteren Umständen ab.
Das gütekräftige Vorgehen erzeugt bei den am Missstand Beteiligten, auch unter den Führungspersonen, die den Missstand stützen, durch das Mitschwingen Zweifel und Widersprüche. Dies kann bei einigen zur Verhärtung führen. In der Regel bewirken die Zweifel in der Führungsgruppe jedoch verschiedene Ansichten über den Umgang mit den gewaltfrei-gütekräftig Aktiven und ihren Anliegen. Die Spaltung der Führung hilft dabei Veränderungen zu ermöglichen. Damit diese wahrscheinlich werden, ist es wichtig, dass die Engagierten denjenigen, die den Missstand stützen, mit wohlwollender Haltung begegnen und gleichzeitig auf Gerechtigkeit bestehen. Es ist ein wohlwollend-gerechtes Streiten. Auch Menschen, die den Missstand direkt stützen, können dadurch angeregt werden, ihr Handeln zu ändern.
In Leipzig hatten seit Jahren Pfarrer und weitere kirchenleitende Personen mit staatlichen oder Partei-Stellen wohlwollend-gerecht gestritten. Und dies geschah auch bei den montäglichen Friedensgebeten in der Kirche und den Diskussionen und Demonstrationen draußen. Diese offenen Gespräche nach der Art wohlwollend-gerechten Streitens und das gütekräftig gestaltete Gebet erwiesen sich als wirksame Medien, andere anzustecken aktiv zu werden und den Missstand abzubauen. Dem lag jedoch kein Plan zugrunde. Das kirchliche Handeln ergab sich von selbst aus dem kirchlichen Selbstverständnis, das in den Ökumenischen Versammlungen weiterentwickelt wurde. Mit der Zeit trugen die Demonstrationen und die vorbereiteten Beiträge für das Westfernsehen, durch die die Vorgänge in der DDR weit bekannt wurden, zusätzlich zur ansteckenden Weitergabe der Impulse bei.
Neben den Friedensgebeten, den Demonstrationen und den Beiträgen für das Westfernsehen spielte die Glasnost-Politik eine wichtige Rolle, indem sie das Volk in ihrem Tun ermutigte. Das Gefühl, das sich etwas veränderte, wirkte ansteckend. Weltweit und auch innerhalb der DDR war Michail Gorbatschows Reform-Politik, die auf Offenheit, Transparenz und Öffentlichkeit setzte, weithin bekannt. Die deutsche Ausgabe der sowjetischen Zeitschrift „Sputnik“ berichtete davon in beiden deutschen Staaten. Da dies der herrschenden SED-Parteilinie widersprach, wurde „Sputnik“ in der DDR verboten. Dies machte Glasnost noch populärer und die sich neu entfaltende Öffentlichkeit konnte sich auf Glasnost berufen. Außer bei den Friedensgebeten entstanden so mehr und mehr Orte und Gruppen des offenen Gesprächs über gesellschaftliche und politische Fragen. Frei und offen miteinander zu sprechen hieß, sich dem Totalitätsanspruch des Staates nicht länger zu unterwerfen: Es war ein Akt der Nichtzusammenarbeit.
- Gütekräftiges Wirken: Nichtzusammenarbeit mit dem Missstand. Sie entzieht dem Missstand die Stützen.
Dem Missstand die Zusammenarbeit zu verweigern heißt, diesem Mittel zu entziehen, die ihn stützen. Wenn ihm die wesentlichen Stützen entzogen sind, kippt er.
Oftmals stützen wir auch selbst ungewollt Missstände, indem wir z.B. nichts dagegen tun oder Vorteile davon nutzen. Wir meinen dann oft, unsere eigenen Beiträge seien so minimal, dass sie nicht ins Gewicht fallen. Aber „Dein Trilliardstel zählt!“ (Ruth Cohn)
Wegen möglicher Resonanz (siehe oben!) kann der demonstrative Entzug der Zusammenarbeit weitreichende Folgen haben. Ein Beispiel ist Greta Thunberg. Durch ihren einsamen, beharrlichen Zivilen Ungehorsam entstand die weltweite Fridays for Future-Bewegung. Diese brachte in vielen Ländern die Notwendigkeit von Klima-Maßnahmen auf die politische Tagesordnung.
Gewaltfrei-gütekräftiges Vorgehen besteht bei größeren Missständen wesentlich darin, unter denen, die den Missstand aufrechterhalten, Kritik und Widerspruch dagegen zu wecken und zu verstärken, und darauf systematisch hinzuarbeiten. Dazu kann die tätige Aufkündigung der Zusammenarbeit ein wesentlicher Schritt sein. Sie kann auch dazu führen, dass die Hauptverantwortlichen für den Missstand diesen nicht mehr aufrechterhalten können. Klassische Formen massenhafter Nichtzusammenarbeit sind Streik, Boykott und Embargo.
Kirchen und andere Gruppen, die für Nichtzusammenarbeit in Form des freien Dialogs Raum boten, stützten nicht nur das System nicht mehr, sondern untergruben den Totalitätsanspruch des Staates, der im Monopol der Partei auf die Wahrheit wurzelte. Durch die Nichtzusammenarbeit mit der Gewalt der ‚Diktatur des Proletariats‘ wurde eine Kraft wirksam, welche ansatzweise bereits Institutionen der besseren Gesellschaftsordnung schuf und auch unter den Führungspersonen der DDR Widersprüche hervorrief.
Dabei spielte der bei der Demonstration am 9. Oktober in 25.000 Exemplaren verteilte Appell zur Gewaltlosigkeit eine zentrale Rolle.
Davon und mehr in Teil 4.
Teil 4: Wie der Aufruf „Keine Gewalt!“ wirkte
Die Aufforderung „Keine Gewalt!“ hatte, besonders am 9. Oktober, für die beteiligten Gruppen mehrere Bedeutungen, die sich allerdings überschnitten. Für Christ*innen drückte sie die Orientierung am gewaltfreien Jesus aus, der im Vertrauen auf Gott als verbindliches Vorbild angesehen wurde. Für die Demonstrierenden war Gewaltlosigkeit auch ein Gebot taktischer Klugheit, weil Angriffe z.B. gegen ‚Sicherheitskräfte’ staatlichen Gewalteinsatz legitimiert hätten. Bei Angehörigen der ‚Sicherheitskräfte‘ aller Dienstgrade appellierte die Aufforderung an ihr Gewissen, ggf. bestimmten Einsatzbefehlen nicht Folge zu leisten.
Aufruf der Sechs
Für die politische Führung war „Keine Gewalt!“ die Aufforderung, politischen Dialog zuzulassen, statt die Kritiker*innen brutal mundtot zu machen. Einige Funktionäre hatten sich bereits dafür entschieden. Ihre Bereitschaft und ihre Aufforderung zum Dialog bedeuteten natürlich Verzicht auf staatliche Gewalt gegen die Dialogpartner*innen.
So nahm der „Aufruf der Sechs“ (verfasst von Kurt Masur, Bernd-Lutz Lange, einem Theologieprofessor und drei Leipziger SED-Funktionären) das auf, was an der Basis, in der Moskauer Glasnost-Politik sowie am Runden Tisch der polnischen Staatsführung mit der Solidarność-Bewegung bereits Konsens war: Mit ihrem Aufruf kündigten die Sechs dem Missstand ‚totalitärer Staat‘ die Zusammenarbeit auf.
Mit dem „Aufruf der Sechs“ war der Impuls offensichtlich auf der Leipziger SED-Führungsebene angekommen. Er legte die Axt an die Wurzel des sozialistisch-kommunistischen Selbstverständnisses, denn er plädierte für Dialog und forderte somit dazu heraus, als Partei den Anspruch auf alleinigen Wahrheitsbesitz aufzugeben – entgegen dem jahrzehntelang landesweit propagierten Liedslogan „Die Partei, die Partei, die hat immer Recht“.
Mit dem Wahrheitsbesitz wurde zugleich die Rechtfertigung für den – notfalls mit Waffen durchzusetzenden – Totalitätsanspruch infrage gestellt. Weil er dem Dialog im Wege stand, erkannten diesen nun auch immer mehr Führungskader als Missstand. Daher trafen die Forderungen nach Dialog und Gewaltlosigkeit den Missstand Totalitätsanspruch und die Parteiführung an zentraler Stelle.
Die herrschenden Kreise in Leipzig wurden tief verunsichert, ohne dass die Unzufriedenen planmäßig darauf hingearbeitet hatten. Die Strahlkraft der Friedensgebete wirkte. Am 9. Oktober waren ihr auch die tausend Funktionäre in St. Nikolai ausgesetzt. Die montäglichen Erlebnisse von Gesprächen und Gebeten bewirkten zunächst gute Erfahrungen und die Überzeugung von der Richtigkeit des Dialogs. Darüber hinaus förderten sie auch die innere Bereitschaft und lockten zum Gespräch. Damit wuchs der tragende Grund für den Verzicht auf Gewalt gegen Andersdenkende. Die Glasnost-Signale und das Fehlen von Rückendeckung für den Einsatz von ‚Sicherheitskräften‘ aus Moskau verstärkten ihn. Wahrheits- und Totalitätsanspruch der SED traten nun unabweisbar auch öffentlich als Missstand zutage.
In der DDR waren die Zweifel an der Rechtmäßigkeit staatlicher Zwangsmaßnahmen bereits bis weit in die Führungsriege des Staates gedrungen. Angesichts der Massen friedlich Demonstrierender nahm darum der Wille zur gewaltsamen Durchsetzung der Staatsraison auch bei der Führung rapide ab und schwand schließlich ganz. Darum waren Schießbefehlsverweigerung oder Meuterei von ‚Sicherheitskräften‘ nicht mehr nötig.
Eine Inspiration aus Leipzig
Die Botschaft von Leipzig elektrisierte das Land. Die DDR war durch die vielen Friedensgebete, durch „Sputnik“ und Glasnost sowie aus wirtschaftlichen und politischen Gründen bereit für die revolutionäre Botschaft: „Der Wahrheits- und Totalitätsanspruch der Partei ist nicht aufrechtzuerhalten.“
Diese Botschaft, die mehr oder weniger ausdrücklich als gemeinsamer Kern in den vielen Aktivitäten enthalten war, inspirierte, von Leipzig ausgehend, die empfangsbereite Bevölkerung. Nahezu im ganzen Land wurde sie an den folgenden Montagen durch Demonstrationen hunderttausendfach verstärkt. Unausweichlich erreichte sie auch sämtliche Führungsebenen.
Was bedeutete dies für diejenigen, die vor allem aus jenem Wahrheitsanspruch ihr Selbstverständnis und ihren Auftrag als Regierende herleiteten?
Die Geschehnisse belegen eindrücklich die große, ansteckende Kraft des Selbst-Beginnens, die schließlich zu massenhafter Nichtzusammenarbeit führte. Überall im Land fanden in neu gebildeten Gruppen politische Dialoge statt.
Die Botschaft von der Notwendigkeit des Dialogs wurde selbst von politischen Freund*innen der im alten Selbstverständnis Regierenden vertreten. Sie wurden davon mit einer solchen Wucht verunsichert, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sie abtraten.
Zur Bedeutung der gütekräftigen Revolution in Deutschland 1989
Aus folgenden Gründen ist das geschilderte Geschehen, diese gütekräftige Revolution, für uns heute überaus bedeutsam.
- Historisch für Deutsche: Die Friedliche Revolution ist für uns Deutsche besonders wichtig, weil sie Teil unserer eigenen Geschichte ist. Der erste Schritt zu bewusstem gütekräftigem Handeln ist, die Gütekraft im Eigenen zu entdecken, sie in der eigenen Geschichte und damit als eigene Möglichkeit zu erkennen. Wir haben in Deutschland eine Reihe guter Erfahrungen mit gewaltfrei-gütekräftigem Vorgehen gemacht, auch vor und unter der Naziherrschaft und danach, z.B. beim Ausstieg aus der Atomenergie.
- Ein vielversprechender Weg zu mehr Menschlichkeit: Aufgrund der Gütekraft-Potenz spüren alle zumindest unbewusst, dass der Einsatz für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit zu unserem Leben gehört, und sind deshalb grundsätzlich bereit, sich zum Gutes-Tun, d.h. zum Einsatz für diese Werte, anstecken zu lassen – soweit die Grundannahme der Gütekraft.
Darum ist möglich, was Paulus von Tarsus empfiehlt: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde Böses mit Gutem“: Das Gute ruft im Gegenüber ein Mitschwingen hervor und kann daher, wenn dies stark genug ist, dessen (‚böse‘) Schädigungsimpulse unwirksam machen. Auch der Koran kennt diese Wirklichkeit und formuliert sie in Sure 41,35 ausdrücklicher: „Gutes und Böses ist nicht einerlei; darum wende das Böse durch Gutes ab, dann wird selbst dein Feind dir zum echten Freund werden.“ Dies bezieht sich nicht allein auf persönliche Freundschaften, sondern heißt auch: Menschen, die zuvor ein ungerechtes System unterstützten, können zu Mitstreitern für Gerechtigkeit werden. Die Empfehlungen von Paulus und im Koran sind nicht nur im Konflikt auf der Mikroebene, also zwischen Einzelpersonen, von Bedeutung, sondern auch in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Alle anderen an einem Missstand Beteiligten von vornherein als potenzielle Mitstreiter*innen anzusehen, ihnen beharrlich mit dieser Haltung zu begegnen und sie durch eigenes Vorangehen zum Gutes-Tun herauszufordern, bietet gute Chancen, viele zur Mitarbeit an der Überwindung von Unmenschlichkeit, Unterdrückung oder Unrecht zu gewinnen. Wer sich in dieser Weise engagiert, darf von vornherein mit der potenziellen Zustimmung vieler rechnen. - Ungerechte Strukturen können gewaltfrei verändert werden: Wenn viele sich anstecken lassen, können mit diesem Vorgehen gesellschaftliche und politische Strukturen geändert werden. Dies geschieht – geplant oder ungeplant – dadurch, dass immer mehr der Personen, die eine ungerechte Struktur aufrechterhalten, zur Nichtzusammenarbeit übergehen, bis die Struktur schließlich nicht mehr hinreichend gestützt wird und zusammenbricht. Verstößt gewaltfrei-gütekräftige Nichtzusammenarbeit gegen geltende gesetzliche Vorschriften, so wird sie ziviler Ungehorsam genannt. Solche Aktivitäten spielten 1989 in der DDR keine wesentliche Rolle, weil kirchliche Aktivitäten in kirchlichen Räumen legal waren. Deshalb konnte an diesen Orten die Untergrabung des staatlichen Totalitätsanspruchs bis zur mutigen Stabilisierung dieses Handelns vorankommen.
Die Diktatur in der DDR wurde 1989 überwunden, weil wesentlichen Unterstützer*innen, seien es ‚Sicherheitskräfte‘ oder führende Politiker*innen, die totalitäre Herrschaft nicht mehr legitim erschien und sie deshalb den Gehorsam aufkündigten. Dieses Beispiel zeigt wie viele andere: Gütekräftiges Vorgehen ermöglicht gewaltfreie Systemüberwindung.
Zum Autor
Dr. Martin Arnold ist Friedensforscher in Essen, siehe https://martin-arnold.eu und Redakteur der gewaltfreien aktion.