von Dr. Samira Akbarian
„Ziviler Ungehorsam“ ist zum Schlagwort aktueller Debatten über die Legitimität politischer Proteste geworden. Szenen von besetzten Wäldern, versperrten Autobahnen oder gestürmten Regierungsgebäuden sind in der politischen Berichterstattung allgegenwärtig.
Dabei sind uns Geschichten des Ungehorsams seit der Antike bekannt und stehen im Mittelpunkt großer Tragödien. Über die Zeiten hinweg führte und führt bewusst ungehorsames Verhalten zu lebhaften Diskussionen.
Was ist Ziviler Ungehorsam?
Unter zivilem Ungehorsam verstehe ich zunächst ein Protesthandeln, das von einer Richtigkeitsüberzeugung getragen und daher als zivil zu verstehen ist. Ungehorsam ist dieses Verhalten, weil es sich gegen Gesetze, Institutionen, Unternehmen oder staatliche Maßnahmen richtet und weil es – zumindest potenziell – illegal ist.
Schon diese Minimaldefinition deutet an, dass der zivile Ungehorsam auf grundsätzlicher Ebene die Legitimität demokratischer Ordnungen verhandelt.
Das manifestiert sich einerseits in den Problemen, auf die er reagiert: Der zivile Ungehorsam erinnert uns an zentrale Versprechen des demokratischen Rechtsstaates. Das ist erstens der Anspruch, dass alle gleichermaßen an der Gestaltung der politischen und rechtlichen Ordnung teilhaben können.
Zweitens versteht sich der demokratische Rechtsstaat als eine Ordnung, in der Legalität und Legitimität Hand in Hand gehen. Ziviler Ungehorsam thematisiert ein Defizit repräsentativer Mehrheitsdemokratien. Denn viele Bürger*innen fühlen sich nicht ausreichend wahrgenommen. Bestimmte Bevölkerungsgruppen haben auch nachweislich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit, ihres Alters oder aufgrund anderer struktureller Ungleichheiten einen eingeschränkten Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen.
Der zivile Ungehorsam bezweifelt in Bezug auf die moralische Qualität einzelner Gesetze und auf die Verteilung von Teilhabemöglichkeiten, ob der Rechtsstaat seinen eigenen Ansprüchen genügt. Andererseits stellt sich im Umgang mit diesen Problemen unweigerlich die Frage: Wie weit dürfen Proteste eigentlich gehen? Dies zeigte sich zuletzt beispielsweise bei den Klebeaktionen der „Letzten Generation“ gegen die Klimapolitik.
Diese Eingriffe in die öffentliche Ordnung lösen zu Recht eine Debatte darüber aus, mit welcher Legitimation die Aktivist*innen die Legitimität von demokratischen Gesetzen und Regierungsmaßnahmen infrage stellen und im besonderen Maße öffentliche Aufmerksamkeit für sich beanspruchen dürfen. Das Problem wird vor allem dann akut, wenn die inhaltlichen Anliegen von Aktivist*innen nicht auf breite gesellschaftliche Zustimmung stoßen. Mit der Einordnung und Bewertung dieser Proteste zeigt sich sowohl die gesellschaftliche als auch die juristische Debatte überfordert.
Ziviler Ungehorsam als Potenzial für den Rechtsstaat
Mit meiner Arbeit unternehme ich den Versuch, den zivilen Ungehorsam in seiner ambivalenten Funktion zu begreifen und seine Funktionen für den demokratischen Rechtsstaat fruchtbar zu machen. Gefahren und Potenziale des zivilen Ungehorsams bedingen sich gegenseitig Denn ziviler Ungehorsam birgt sowohl Gefahren als auch Potenziale. Auf der einen Seite steht die Gefahr, den demokratischen Rechtsstaat, seine Verfahren und Institutionen zu destabilisieren. Auf der anderen Seite zeichnet sich die Demokratie im Gegensatz zu autoritären oder totalitären Regimen durch die Möglichkeit aus, Dissens zu zeigen, das demokratische Zusammenleben immer wieder neu zu verhandeln und zu verändern.
Ich habe daher untersucht, wie der zivile Ungehorsam Potenziale entfalten kann, ohne die Ordnung des demokratischen Rechtsstaates zu beschädigen. Denn wie ich zu zeigen versuche, liegt das Potenzial des Ungehorsams gerade in seiner Gefährlichkeit. So bewegt sich der zivile Ungehorsam zwar außerhalb repräsentativ-demokratischer Mehrheitsverfahren. Er bietet aber auch eine direkt-demokratische Interventionsmöglichkeit, auf die Mehrheitsdemokratien angewiesen sind, um für die Anliegen ihrer Bürger*innen empfänglich zu sein.
Um diese Wechselbeziehung produktiv zu machen, schlage ich vor, zivilen Ungehorsam als eine Form der Verfassungsinterpretation zu betrachten. Durch den Rechtsbruch wird immer auch Recht interpretiert. Dies zeigt sich vor allem als eine Interpretation der hinter den Gesetzen stehenden Ordnung und ihrer Werte, wie sie in der Verfassung verkörpert sind. Diese These werde ich im Folgenden mithilfe von drei Dimensionen skizzieren, die verschiedene Funktionen des zivilen Ungehorsams hervorheben: eine rechtsstaatliche, eine (radikal)demokratische und eine ethische Dimension.
Damit gehe ich auch der Frage nach, wie politische Gemeinschaften, Gerichte, Verwaltungsbehörden und Politiker*innen, aber auch Aktivist*innen mit ihren Verantwortungslagen umgehen sollten. Wie können sie entscheiden, welcher Protest die Ordnung des demokratischen Rechtsstaates befördert und welcher ihr schadet?
Die rechtsstaatliche Dimension
Ziviler Ungehorsam als Loyalität zur Verfassung Auf der ersten Dimension beginnt ein klassischer Zugang mit der Definition zivilen Ungehorsams als „einer öffentlichen, gewaltlosen, gewissensbestimmten, aber politischen gesetzwidrigen Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll“ (John Rawls). Dieser Kriterienkatalog orientiert sich an Maßgaben und Wertsetzungen des demokratischen Rechtsstaates und seinen Prinzipien wie zum Beispiel der Verhältnismäßigkeit. Indem zivil Ungehorsame öffentlich sowie vornehmlich symbolisch handeln und sich auch der Strafverfolgung nicht entziehen, betonen sie nach diesem Modell ihre Loyalität zum Rechtsstaat und fordern staatliche Institutionen und die politische Gemeinschaft dazu auf, ihre Handlungen zu überdenken.
Der zivile Ungehorsam dient dann dazu, in einem grundsätzlich gerechten System des demokratischen Rechtsstaates die Lücke zwischen gerecht und fast-gerecht zu schließen. In dieser Dimension beabsichtigen Aktionen zivilen Ungehorsams der rechtsstaatlich-demokratischen Gesellschaft die durch sie selbst verursachten Ungerechtigkeiten vorzuhalten. Die zivil Ungehorsamen arbeiten in diesem Modell für und in Verteidigung des demokratischen Rechtsstaates.
Das illustrieren bereits historische Beispiele wie die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung. Mit Aktionen zivilen Ungehorsams machten Schwarze Bürger*innen ihnen verwehrte Rechte geltend, indem sie gegen Gesetze zur Rassentrennung verstießen. Damit schufen sie zugleich „Testfälle für die Verfassung“ (Jürgen Habermas), die im Rahmen gerichtlicher Verfahren Neuinterpretationen der Verfassung und damit auch Neuregelungen des einfachen Rechts bewirkten.
In Deutschland wird unter dem Stichwort der Klimagerechtigkeit beispielsweise immer wieder auf die Interpretation des Artikels 20a Grundgesetz Bezug genommen, der die natürlichen Lebensgrundlagen schützt. Aktivist*innen haben die rechtliche Aufwertung dieser Bestimmung angestoßen, indem sie ihre Interpretation der Regelungen vor den Gerichten vertreten haben und sie so in die Rechtsprechung und Gesetzgebung integrierten.
So erwirkten Aktivist*innen Freisprüche in Verfahren wegen Hausfriedensbruch aufgrund von Stalleinbrüchen oder Waldbesetzungen, da die Richter*innen die Ansichten der Aktivist*innen zum Schutz von Tieren und Wäldern teilten. Sie gingen gemeinsam mit den Aktivist*innen in einigen Verfahren davon aus, dass ein „rechtfertigender Notstand“ vorliege, der die Aktionen legitimiere. Sowohl die inhaltlichen Anliegen (Klimaschutz) als auch die Protestmittel (Was ist gerechtfertigt? Was ist von der Versammlungsfreiheit geschützt?) erfahren so eine Neuinterpretation.
Die Ungehorsamen verdeutlichen damit, dass die Verfassung ein „lebendiges“ Dokument ist, an deren Auslegung die Bürger*innen im Rahmen einer „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (Peter Häberle) teilhaben können.
Die demokratische Dimension: Warum ziviler Ungehorsam stören darf
Eine offene Gesellschaft der Verfassungsinterpret*innen setzt aber voraus, dass der Zugang zu dieser Gesellschaft auch denjenigen eröffnet ist, die unter den Gesetzen und der Verfassung leben und ihnen unterworfen sind. Aber demokratische Ordnungen integrieren nicht nur Personen und plurale Interessen, sie schließen notwendigerweise auch aus. Der offensichtliche Fall eines solchen Ausschlusses erfolgt über die Staatsangehörigkeit. In diesem Fall gilt die demokratische Regel nicht, dass die Gesetzesunterworfenen auch über die Gesetze mitentscheiden dürfen. Das Argument, den Gesetzen folgen zu müssen, denen man selbst zustimmen konnte, zieht an dieser Stelle nicht.
Aber auch auf andere Weisen produzieren die politische Gemeinschaft und staatliche Institutionen Ausschlüsse. So waren es gerade zu Beginn der Fridays for Future-Bewegung minderjährige und damit nicht wahlberechtigte Schüler*innen, die sich für ihre Zukunft eingesetzt haben.
Die Bewegung Black Lives Matter verdeutlicht schon mit ihrem Namen, dass eben nicht jede Person am gesellschaftlichen Leben gleichermaßen teilhaben kann und dass politische, gesellschaftliche und auch rechtliche Strukturen Ungleichgewichte in der Vernehmbarkeit der Stimmen verursachen.
In diesen Fällen macht der zivile Ungehorsam auf mehr als nur eine Lücke zwischen der gerechten und der fast-gerechten Gesellschaft aufmerksam. Vielmehr hinterfragt er die Bedingungen, unter denen überhaupt an einer – nur vermeintlich – offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpret*innen teilgenommen werden kann. Eine radikale Form des Ungehorsams kann vor diesem Hintergrund die öffentlich und unter Protest durchgeführte illegale Übertretung von Staatsgrenzen sein.
Derartige Grenzen verdeutlichen, dass Freiheit und Gleichheit in der demokratischen Gesellschaft voraussetzen, überhaupt ein teilhabeberechtigtes Mitglied dieser Gesellschaft zu sein. Andere Formen des Protestes, wie zum Beispiel die eben genannte Black Lives Matter-Proteste, stellen vor allem auf Sichtbarkeit und Hörbarkeit ab.
Der zivile Ungehorsam in diesen Protestbewegungen praktiziert die gleiche Teilhabe. Gerade dadurch stellt er die Hör- und Sichtbarkeit her, die den Aktivist*innen aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse normalerweise verwehrt bleiben würde. Das gelingt ihnen vor allem durch die Störung des öffentlichen Raumes, um die darin herrschenden diskursiven Verhältnisse zu unterbrechen und eine Veränderung derselben anzustoßen. Während der rechtsstaatliche Zugang auf Integration ausgerichtet ist und zum Teil von staatlichen Organen wie Gerichten als neue Interpretation des Grundgesetzes umgesetzt wird, reagieren Institutionen auf radikaldemokratischen Protest mit starken Abwehrreaktionen.

Die Abwehrreaktion zeigt sich zum Beispiel in Gesetzesverschärfungen bei Versammlungsgesetzen in verschiedenen Bundesländern Deutschlands (zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen und Bayern), aber auch in verschiedenen US-amerikanischen Bundesstaaten (zum Beispiel North Dakota und Oklahoma). Hier verkennen staatliche Entscheidungsträger*innen zum Teil die demokratische Bedeutung tiefergreifender und störender Proteste. Diese sind aber in ihrer Wirkkraft demokratisch, weil sie selbstverständliche Interpretationen davon aufbrechen, was politische Mitgliedschaft, was legitimer oder ziviler Ungehorsam oder was Verhältnismäßigkeit zu bedeuten hat. Damit eröffnen sie einen Raum für notwendige Veränderungen und die eben beschriebene dynamische Verfassungsinterpretation.
Die ethische Dimension: „Hier stehe ich und kann nicht anders“
Die dritte Dimension richtet sich weniger auf die rechtsstaatliche Integrität der Verfassung oder auf die demokratische Integrität der politischen Gemeinschaft als auf die Integrität der eigenen Person.
Schon einer der prominentesten unter den antiken Ungehorsamen, der Philosoph Sokrates, rüttelte seine Mitbürger wach; nicht nur, um die demokratische Gemeinschaft zu schützen. Sondern auch, weil er nicht mit sich selbst leben konnte, wenn er nicht die Wahrheit sprach. Indem er die gefestigten Ansichten seiner Mitbürger im Dialog mit ihnen infrage stellte, war er als Philosoph und moralisches Individuum stets der Wahrheit mehr verpflichtet als den politischen Machtverhältnissen. Für diese Haltung wurde er zum Tode verurteilt und blieb bis zum Schluss als Bürger seiner Heimatsstadt treu: Er vollzog das Todesurteil selbst, indem er aus dem Schierlingsbecher trank.
Die Erzählung von moralisch integren Individuen, die sich für ihre Überzeugungen einsetzen und den Mut aufbringen, die Wahrheit zu sagen, setzt sich von der Antike über Persönlichkeiten wie Mohandas Karamchand Gandhi oder Martin Luther King bis in die Gegenwart hin zu Greta Thunberg fort. Dabei ist es eine verbreitete Kritik gegenüber zivil Ungehorsamen, dass sie sich dazu aufschwingen, die Wahrheit gepachtet zu haben.
Verstehen wir ihr „Wahrsprechen“ (Michel Foucault) aber, meiner These folgend, als eine Praxis der Verfassungsinterpretation, stellt sich die Situation in zweierlei Hinsicht anders dar. Denn erstens kommen Verfassungsordnungen ohne den Mut zur Wahrheit nicht aus.
Wenn Greta Thunberg vor den Vereinten Nationen ausruft „How dare you?“ („Wie könnt ihr es wagen?“), dann fordert sie dazu auf, die politische Gemeinschaft sowie ihre Verantwortung für die Welt ernst zu nehmen und sich notwendigen Herausforderungen zu stellen.
Wenn Martin Luther King in seiner berühmtesten Rede seinen Traum einer egalitären Gesellschaft beschreibt („I have a dream“), dann formuliert er damit die Vision einer normativen Zukunft ohne Rassismus aus, einer Zukunft, die zumindest zum Zeitpunkt seiner Rede wie eine Utopie erscheint. Ohne diese Ernsthaftigkeit und ohne diese von Ungehorsamen praktizierten Visionen können zentrale Verfassungsbegriffe wie Versammlung, Gewissensfreiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit oder auch Klimaschutz gar nicht mit Bedeutung gefüllt werden.
Der zivile Ungehorsam in seiner ethischen Dimension stellt die Sinnquellen bereit, aus denen Institutionen ihre Auslegungen der Verfassung schöpfen. Und zweitens ist es ein Kernanliegen liberaler Verfassungen, ihren Bürger*innen ein gutes und authentisches Leben nach ihren eigenen Wertvorstellungen als moralische Individuen zu ermöglichen.
Zwar kann in einer Demokratie keine Wahrheit als absolut gesetzt werden. Dennoch brauchen wir als demokratische Gemeinschaft Wahrheiten – im Plural. Ein demokratisches, das heißt: plurales, Wahrheitsverständnis bedeutet nicht, dass Wahrheit und Lüge einerlei sind. In den Worten des kürzlich verstorbenen französischen Philosophen Bruno Latour ausgedrückt, heißt es vielmehr: Statt mit alternativlosen „Fakten“ („matter of fact“) zu argumentieren, ist die Wahrheit in der Demokratie besser als „matter of concern“ verstanden, das heißt als Gegenstand der gemeinsamen Sorge. Wahrheit als matter of concern verdient unseren persönlichen Einsatz und darf nicht rücksichtslos mit „alternativen Fakten“ verleugnet werden.
Dieser persönliche Einsatz und Mut sind es, die die Faszination für zivil Ungehorsame durch die Jahrtausende hinweg aufrechterhalten. Damit sind die Vorbehalte gegenüber dem zivilen Ungehorsam aber nicht aus dem Weg geräumt.
Die Frage bleibt, wie wir den Ungehorsam erkennen und bewerten, der sich nicht mit dem demokratischen Rechtsstaat vereinbaren lässt. Wie ist beispielweise damit umzugehen, wenn die Vision einer normativen Zukunft nicht auf Egalität und Freiheit, sondern wie unter Reichsbürger*innen, auf ein völkisches Verständnis von Gleichheit gerichtet ist? Und was tun wir, wenn eine radikaldemokratische Infragestellungspraxis in Verschwörungserzählungen mündet? Oder, wenn rechtsautoritäre Bewegungen Verfassungsgerichte unterminieren und ihre Vorstellungen wie beispielweise ein großflächiges Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen im Rahmen einer „Verfassungsinterpretation“ durchsetzen?
Freiheit und Gleichheit: Die Verfassung als Ermöglichungsraum politischen Handelns
Um diesen Problemen zu begegnen, bedarf es eines Kriteriums, mit dem „gute“ von „schlechten“ Interpretationen unterschieden werden können. Verstehen wir zivilen Ungehorsam als Verfassungsinterpretation, dann eröffnet die „Interpretationsseite“ der These die Offenheit für stetigen Wandel.
Im Zentrum der Demokratie darf keine absolute Wahrheit und keine festgelegte Werteordnung objektiviert und zementiert werden. Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass sich Verhältnisse ändern können, dass die Bürger*innen eingreifen, politisch handeln und damit immer wieder einen neuen Anfang setzen können. Die „Verfassungsseite“ der These gibt aber einen Rahmen vor, unter welchen Bedingungen das politische Handeln und der Konflikt über unterschiedliche Interpretationen stattfinden kann. Dieser Konflikt setzt einen Konsens voraus, wer wie am Konflikt teilhaben kann.
Dieser Konsens ist meines Erachtens die Verfassung. Sie ist der symbolische Raum, der plurales politisches Handeln ermöglicht. Genauso wie erst die Möglichkeit, Dissens zu zeigen, dem Konsens seinen Wert gibt, ermöglicht auch erst ein Minimalkonsens den Konflikt. Gegenstand dieses in der Verfassung festgehaltenen Konsenses sind die Anerkennung der Freiheit und Gleichheit aller.
Freiheit und Gleichheit bedeutet dabei die gleiche Möglichkeit, politisch teilhaben zu können und mit Rechten ausgestattet zu sein. Vor dem Hintergrund meiner These bedeutet es konkret: das gleiche Recht zu haben, an einer Gesellschaft der Verfassungsinterpret*innen mitwirken zu können. Ethnisch geprägte Volksverständnisse oder Wertvorstellungen, die nicht ein solches „Recht auf Rechte“ (Hannah Arendt) anerkennen, sind damit nicht von einem Konzept des zivilen Ungehorsams als Verfassungsinterpretation umfasst.
Die Gesellschaft wird also nicht von einer „objektiven Wertordnung“ (Bundesverfassungsgericht), von letzten Wahrheiten oder von einer unverrückbaren Autorität getragen. Die demokratische Gemeinschaft ist vielmehr eine, die den Konflikt organisiert: den Konflikt über plurale Interessen, über die eigenen Grenzen, über den Umgang mit Ressourcen, über Teilhabemöglichkeiten und so weiter. Geordnet wird dieser Konflikt durch die Verfassung.
Ziviler Ungehorsam erfüllt seine zweischneidige Rolle für Demokratie und Rechtsstaat, weil er diesen Konflikt auslebt. Mit Rechtsstaat und Demokratie vereinbar ist er, soweit er die von der Verfassung bestimmten Regeln einhält. Das bedeutet zum einen, dass der Ungehorsam die Vorgaben der Verfassung einhalten muss. Es bedeutet zum anderen aber nicht, dass damit immer nur die zurzeit herrschende Auslegung des Grundgesetzes umfasst ist.
Der durch den zivilen Ungehorsam ausgetragene Konflikt kann sich im Rahmen der Verfassung und sogar ausdrücklich als Frage nach der „richtigen“ Interpretation der Verfassung manifestieren. Er kann aber auch ein Konflikt über den Rahmen der Verfassung sein, also über die Ein- und Ausschlüsse, die die Verfassung mit sich bringt. Dieser Konflikt muss aber seine eigenen Voraussetzungen anerkennen, und zwar die Anerkennung aller als Freie und Gleiche.
Insofern versteckt sich in der Deutung des zivilen Ungehorsams als Verfassungsinterpretation eine normative Aussage: Der zivile Ungehorsam soll Verfassungsinterpretation sein, damit er seine demokratische und rechtsstaatliche Funktion erfüllen kann. Die verschiedenen Formen des zivilen Ungehorsams verdeutlichen uns damit, dass die Demokratie davon lebt, durch den Rechtsstaat einen Raum auszugestalten, in dem politisch gehandelt werden kann.
Dass der demokratische Rechtsstaat – in Abwandlung eines berühmten Diktums des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde – damit von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht gewährleisten kann, ist jedoch kein Grund zur Resignation. Der demokratische Rechtsstaat kann den zivilen Ungehorsam als politische Konfliktaustragung zwar nicht kontrollieren, ist aber auf den Dissens, den dieser praktiziert, angewiesen.
Das macht den Ungehorsam zu einer risikoreichen Angelegenheit – aber genau deswegen auch zu einer demokratischen.
Quelle des Textes
Der vorliegende Beitrag wurde beim Deutschen Studienpreis 2023 der Körber-Stiftung mit dem 1. Preis in der Sektion Geistes- und Kulturwissenschaften ausgezeichnet.
Die Redaktion von gewaltfreieaktion.de dankt Amira Naumann von der Körber-Stiftung für die Erlaubnis den Text von deren Homepage zu übernehmen
Der Text ist weitgehend identisch mit der Einleitung der 2022 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main eingereichten Dissertation „Ziviler Ungehorsam als Verfassungsinterpretation“, die 2024 unter dem Titel “Recht brechen – Eine Theorie des Zivilen Ungehorsams” im C.H.Beck-Verlag erschienen ist. Sehr lesenswert.
Zur Autorin
Dr. Samira Akbarian ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschungsarbeit über den zivilen Ungehorsam wurde mit dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung, dem Merkur-Preis für herausragende Dissertationen und dem Werner-Pünder-Preis ausgezeichnet.