von Stephan Brües
Viele Zeitungen und Magazine schreiben Nachrufe, nennen ihn einen „Weltretter und Seelsorger, Aufwiegler und Tröster“ (Evelyn Finger, ZEIT). Sie vergessen durchaus nicht, ihn als Friedensaktivisten zu bezeichnen.
Als Zeitschrift gewaltfreie aktion konzentrieren wir uns in der Würdigung Schorlemmers auf den Pazifisten, den unermüdlichen Mahner gegen den Krieg und für Alternativen dazu. Zumal sein Leben zutiefst von diesen Anliegen durchdrungen war.
Kriegsdienstverweigerer in der DDR
Schon als Jugendlicher verstand Schorlemmer sich als Pazifist, das hatte auch mit den Kriegserfahrungen seines Großvaters (Erster Weltkrieg) und seines Vaters, dem Pastor (zweiter Weltkrieg) zu tun. Und er sah als kleiner Junge die Zerstörungen des Krieges.
“Assoziationen und Rückblicke – Schlagworte Kindheitserinnerungen an die rauchgeschwärzte, in Trümmern liegende Stadt Magdeburg. Gespräche mit dem Vater seither: Er war als Sanitäter dabei, als am 22. Juni die Sowjetunion überfallen wurde.”
“Mein Großvater, ein Dorfschullehrer, gehörte zu denen, die mit Trara gegen die „Franzen“ angetreten sind und der schon seit den ersten Wochen des Krieges für immer verschollen blieb. (Auf welcher Seite hätten Sie unter damaligen Bedingungen gestanden? Ich ahne es und erschrecke.)”
(Text von Friedrich Schorlemmer, August 2018 mit dem Titel „Frieden ist nicht alles. Aber ohne Frieden ist alles nichts.“ (Willy Brandt), S. 1 und S. 15)
Ob alleine deswegen, weil er Pfarrerssohn oder auch weil er Kriegsdienstverweigerer war – die DDR machte ihm das Studieren schwer. Er hat an der Volkshochschule bzw. Abendschule sein Abitur gemacht und ist dann in die Fußstapfen seines Vaters getreten – als Theologe und dann als Pfarrer.
Während des Studiums war er bereits politisch aktiv, organisierte friedlichen Protest und gewaltfreien Widerstand, etwa beim Einmarsch der Sowjettruppen in die Tschechoslowakei. Damit geriet er in das Visier der Staatssicherheit.
Nach Jahren als Vikar und Studierendenpfarrer wurde er Prediger in der Schlosskirche in Wittenberg, dort, wo Luther seine Reformations-Thesen anschlug. Und er gründete einen Friedenskreis.
“Mir ist es immer noch, als sei es gestern gewesen: In einem Redebeitrag zur Synode in Magdeburg 1981 habe ich ein kleines Gedicht von Zvonko Plepelic [1945-2018] zitiert.
„Zeug das Kind
Bau das Haus
Pflanz den Baum
Zerbrich das Gewehr
Und Sag es weiter“
Zwei Jahre später hängte ich zu Luthers 500. Geburtstag eine gereimte und politisch aktualisierte Fassung in den Schaukasten am Eingang zum Lutherhaus:
„Lieb dein Land
Brich die Wand
Vergib dem Feind
Such was eint
Und Sag es weiter
Sing das Lied
Mach keinen Krieg
Schwör keinen Eid
Verbind das Leid
Und Sag es weiter
Fürcht keinen Thron
Lehr deinen Sohn
Und Sag es weiter“
Das sollte zwei Stunden aushängen, dann kam der Apparatschik der Staatsmacht. ‘Das kommt weg oder der Kasten kommt ab!’
Ich nahm das Plakat raus und ersetzte es durch ein großes Dinosaurierskelett mit der Zeile: ‘Saurier ausgestorben. Zu viel Panzer. Zu wenig Hirn.’ Zu wenig Hirn? Das ist sehr aktuell!”
(Text von Friedrich Schorlemmer, August 2018 mit dem Titel „Frieden ist nicht alles. Aber ohne Frieden ist alles nichts.“ (Willy Brandt), S. 3f.)
Schwerter zu Pflugscharen
Auf dem Kirchentag in Wittenberg im September 1983 veranstaltete Friedrich Schorlemmer, damals bereits Dozent am Evangelischen Predigerseminar und Prediger an der dortigen Schlosskirche, eine Aktion, die ihn weltberühmt machte. Er bat den örtlichen Schmied, Stefan Nau, ein Schwert in eine Pflugschar umzuschmieden. Ursprünglich sollte dies eher im Verborgenen stattfinden.
Als sich die Vorbereitungen hinauszögerten, schlug Schorlemmer vor, die Aktion auf dem Evangelischen Kirchentag durchzuführen. Sie war eine Provokation für die DDR-Oberen, aber da auch Christ*innen aus Westdeutschland anwesend waren, darunter der designierte Bundespräsident und Bürgermeister von Berlin, Richard von Weizsäcker, griffen sie nicht ein. 2.000 Menschen schauten fasziniert zu, während Schorlemmer eine kurze Ansprache hielt: “Ein jeder braucht sein Brot, seinen Wein und Frieden ohne Furcht soll sein. Pflugscharen schmelzt aus Raketen und Kanonen, dass wir in Frieden zusammen wohnen.”
Während die meisten westlichen Journalist*innen die Aktion nicht filmten, tat dies Peter Wensierski und machte die Aktion nicht nur in Westdeutschland bekannt, sondern auch in der DDR. Sie war die Initialzündung für die Verbreitung des Mottos der kirchlichen Friedensbewegung in der DDR – dem gleich zweimal in der Bibel vorkommenden Wort “Schwerter zu Pflugscharen” (Jesaja und Micha). Und sie schwappte über in die BRD.
Überwindung der DDR-Diktatur
Friedrich Schorlemmer war ein scharfer Kritiker der DDR, aber zugleich ein DDR-Bürger, der in diesem Land einiges politisch ändern wollte. Und ein Mensch, der in seiner durchaus herausgehobenen Stellung als Prediger in Luthers Schlosskirche nicht auf seine direkte Umgebung in Wittenberg, sondern darüber hinaus für eine Veränderung wirkte. Bereits 1988 veröffentlichte er mit seiner lokalen Friedensgruppe die „20 Wittenberger Thesen“ für eine Demokratisierung der DDR: Gefordert wurden freie Wahlen, unabhängige Gerichte, Reisefreiheit und die Forderung nach einem Ende des Anspruchs der SED auf die alleinige Wahrheit. Eine Provokation.
Nach den Großdemonstrationen in Leipzig und vielen anderen Orten der DDR im Oktober 1989 hat er mit seinem expliziten Aufruf zur Gewaltfreiheit bei der großen Berliner Demonstration am 4. November 1989 nach Auffassung des SPIEGEL dazu beigetragen, dass die friedliche Revolution friedlich blieb. Er hielt neben vielen anderen dort eine Rede.
SPD-Mitglied, aber kein Parteisoldat
Kurzzeitig war Friedrich Schorlemmer Gründungsmitglied des Demokratischen Aufbruchs. Als dieser zunehmend Richtung CDU tendierte, schloss er sich der SDP und später SPD an. Er wurde in Wittenberg einige Jahre Stadtrat. Ansonsten war er jedoch auch innerhalb der SPD nicht immer auf Parteilinie.
Er war gegen den Kosovo-Krieg 1999, den ‚sein‘ SPD-Kanzler Schröder führte, und auch gegen den Irak-Krieg 2003, den Schröder ablehnte – wenn er auch nichts dagegen unternahm, dass er auch von deutschem Boden aus (Ramstein) geführt wurde.
Ganz im Sinne Luthers, der dem Volk aufs Maul schaute, aber niemandem nach dem Mund redete, sprach Schorlemmer Klartext. Manche nannten ihn einen „pazifistischen Scharfschützen“.
Besser charakterisiert ihn aber die Überschrift, mit der seine Dankesrede nach Erhalt des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels überschrieb: „Den Frieden riskieren“.
Hass zu überwinden war für ihn eines der wichtigsten Gebote. Denn im Teufelskreis des Hasses besteht keine Chance auf Konfliktlösung. Und wenn das nur dann möglich war, indem Unrechtstaten nicht gesühnt wurden, dann trat Schorlemmer dafür ein, beispielsweise jene der DDR umgehend zu amnestieren. Das hat ihm scharfe Kritik von früheren Mitstreiter*innen aus der Oppositionsbewegung eingetragen.
Nun, streitbar war der Pfarrer aus Wittenberg, klar und konsequent. Vor allem in der Friedensfrage.
Vermächtnis
Friedrich Schorlemmer konnte sich in den letzten Jahren, gezeichnet von Alzheimer und Parkinson, nicht mehr zu den aktuellen Entwicklungen auf der Welt äußern. Es ist schwer vorstellbar, dass er – wie manch andere – dem Ruf nach der Zeitenwende oder der Kriegstauglichkeit gefolgt wäre.
Es gibt so unendlich viel über ihn zu erzählen, über seine vielen Bücher und Texte, über die Frage, mit welcher Haltung „unsere Erde zu retten ist“ (2016) oder über „Albert Schweitzer – Genie der Menschlichkeit“ (2010). Neben seiner Haltung ist aber seine Sprache das, was von ihm bleiben wird.
So hängte er im August 2018 an das Ende des hier bereits zitierten Textes ein längeres Zitat aus einem Buch mit Friedenstexten aus dem Jahr 1983 an, mit dem dieser Nachruf (fast) enden soll:
“Ich möchte so leben, dass auch andere Menschen leben können – neben mir – fern von mir – nach mir.
Ich suche eine Gemeinschaft, in der ich verstanden bin, das offene Gespräch lerne, Informationen bekomme und Stützung erfahre.
Ich suche das Gespräch mit Andersdenkenden.
Ich bedenke die Fragen, die sie mir stellen.
Ich möchte so leben, dass ich niemandem Angst mache.
Ich bitte darum, dass ich selber der Angst nicht unterliege.
Ich will mich von dem Frieden, der höher ist als alle Vernunft, zur Vernunft des Friedens bringen lassen.
Ich suche Frieden inmitten des Friedens. Deshalb wende ich nicht als erster Gewalt an und versuche, den Gegenschlag zu vermeiden.
Ich vertraue unser Leben nicht weiter dem Schutz durch Waffen an. Darum werde ich mich nicht an Waffen ausbilden lassen.
Ich bin bereit, um des Friedens willen lieber Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun. Vorwürfe, Verdächtigungen und Nachteile nehme ich auf mich.
Mein Weg wird nicht leicht sein. Ich gehe ihn aber gewiss.
Ich entdecke an mir selbst Spannungen, Konflikte, Widersprüche. Ich bemühe mich, diese nicht auf andere zu übertragen.
Ich setze meine Fähigkeiten und Kräfte für eine Gesellschaft ein, in der der Mensch dem Menschen ein Helfer ist.
Ich lerne das Loslassen und werde gelassen. Frieden stiften – friedfertig sein, das möchte ich lernen.”
(Aus „Ich möchte ein Mensch des Friedens werden – Einfache Sätze zur Praxis im Alltag“, wieder veröffentlicht in Schorlemers Buch “Versöhnung in der Wahrheit” 1992)
Dies sei uns Hilfe und Maßstab. Ruhe in Frieden, Friedrich Schorlemmer!
Zum Autor
Stephan Brües ist Redakteur der gewaltfreien aktion.