von Martin Arnold
Dies ist die aktualisierte Version eines Artikels, den ich genau hundert Jahre nach den Ereignissen geschrieben habe. Seitdem sind 10 Jahre vergangen. In vielen Ländern werden Militarisierung und Aufrüstung massiv vorangetrieben. Um so wichtiger ist es jetzt, an den Weihnachtsfrieden 1914 zu erinnern. Ja, die Niemöller-Bonhoeffer-Stiftung ruft 2024 die ukrainische und die russische Regierung zum Weihnachtsfrieden in der Ukraine auf.
"Frieden auf Erden""
Dies verkündeten die biblischen Weihnachtsengel. O wie sehnen sie Frieden herbei nach fünf Monaten höllischer Kriegsquälerei: die Frontsoldaten im Dezember 1914. Tagelang ohne Pause knietief im Schlamm der Schützengräben. Auf beiden Seiten. Nur 10, 20 oder wenige 100 Meter voneinander entfernt. Scharfschützen beschießen jeden Kopf, der über dem Grabenrand erscheint. Die Hosen voll. Unwiderstehlicher Brechreiz. Zwischen den Gräben stinken auf verwüstetem Gelände die vermodernden Leichen der Kameraden. „Gefallene“ nennt man sie, als wenn sie nur gestolpert wären, im stets verharmlosenden, verschleiernden Militärjargon, der bis heute in der Alltagssprache vorkommt. Nein, sie hatten getötet oder waren dazu bereit und waren bei diesem Versuch selbst umgebracht worden. Dafür waren sie hierhergekommen. Hunderttausende hatten sich bis kurz vor Kriegsbeginn in vielen Städten an Friedenskundgebungen beteiligt. Doch erlagen die meisten in allen Ländern der aggressiven Propaganda und wollten zumindest keine „Verräter“ sein, also Menschen, die sich weigerten, für die Gemeinschaft gegen die Bösen einzustehen. Nationalistisch und militaristisch aufgeputscht von den führenden Schichten, auch von „christlichen“ Predigern, hatten sie sich in Scharen freiwillig gemeldet, ganze Schulklassen, Deutsche, Briten, Franzosen, Belgier. Auch mein Onkel und mein Großvater. Der eine kam zurück, der andere nicht. Wie in jedem Krieg: Öffentlichkeit und Soldaten wurden von Anfang an belogen. Die deutsche Führung wusste: Wegen Englands Kriegseintritt war der Angriffsplan aussichtslos. Das spielte keine Rolle, hier wie auf der Insel hieß es: „Weihnachten sind alle wieder zu Hause!“
„Ich hätte es nie geglaubt, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte: Vorgestern reichten sich vor dem Schützengraben Franzosen und Deutsche die Hände.“ Mit keinem, „nicht mal mit anderen Soldaten“ dürften sie darüber sprechen. Dies schrieb Gervais Morillon seinen Eltern im Dezember 1914. Ein halbes Jahr später war der Einundzwanzigjährige tot.
Trotz strikter Schweigebefehle, Konfiszierung fast aller Fotos und Briefzensur sickerten die Nachrichten durch: Weihnachten 1914 schwiegen die Waffen fast an der ganzen Front zwischen Nordsee und Schweizer Grenze.
Captain C. I. Stockwell schrieb ins Bataillonstagebuch der Royal Welch Fusiliers, Weihnachten hätten einige Sachsen ohne Waffen auf dem Schützengrabenrand gestanden und auf Englisch gerufen: „Nicht schießen. Wir wollen heute nicht kämpfen. Wir schicken euch Bier rüber.“ Sie hätten ein Fass mitten ins Niemandsland gerollt. Stockwell: „Wir wollten nicht schießen, weil sie alle unbewaffnet waren.
Aber wir hatten strikten Schießbefehl und jemand hätte feuern können.“ Da kletterte der Captain selbst ins Niemandsland und rief auf Deutsch nach dem „Captain“ von drüben. Der kam, sie begrüßten sich und besprachen die Gefahr. Der Deutsche befahl die Männer zurück in die Gräben, nur die Offiziere blieben am Bierfass. Unter dem Beifall aus beiden Gräben tranken sie gemeinsam. Die Deutschen bekamen für das Bier Plumpudding. Man vereinbarte, bis zum Morgen nicht zu schießen.
Die Feinde: "wunderbare Menschen"
Auf Unbewaffnete schießt man nicht – ein Gebot der Soldatenehre! Erhobene Hände oder ein weißes Tuch signalisieren Waffenlosigkeit. Doch selbst ein Soldat, der sich mit diesem Zeichen über die Brustwehr des Grabens erhob, riskierte den Todesschuss von Scharfschützen, denn es hätte eine List sein können. Einige gaben ihr Leben, auf beiden Seiten der Front, auch Weihnachten 1914.
Der Mut einfacher Soldaten, auch gegenüber Vorgesetzten, machte das „Unglaubliche“ wahr. Endlose Monate waren sie unsäglichen körperlichen und seelischen Belastungen ausgesetzt. Dann gab es an der deutschen Front Weihnachtsbäume und Kerzen. Britische und deutsche Soldaten erhielten Standard-Päckchen mit kleinen Geschenken. Persönliche Weihnachtspost weckte sehnsüchtige Gefühle nach lieben Menschen und Erinnerungen an Feiern zu Hause. Briefe und Fotos trugen sie immer bei sich. Am 24. Dezember wurde es kalt, der Schlamm gefror und die Soldaten sanken nicht mehr ein. Sternenklar und windstill war die Nacht.
Einige stimmen an: „Stille Nacht, heilige Nacht…“ Zweite Strophe: Die ganze Kompanie singt mit. Schweigen bei den Briten, 80 m entfernt. Plötzlich ein Ruf „Fröhliche Weihnachten!“ Da kommt die Antwort „Merry Christmas!“ Die Briten klatschen Beifall, rufen „well done, Fritzens!“ und singen englische Weihnachtslieder. Das Lied Oh Come, All Ye Faithful singen die Deutschen mit: Herbei, o ihr Gläubigen. Häufig begann so der Weihnachtsfriede, Christmas truce, Trêve de Noël.
Oft verließen Deutsche die Gräben zuerst. Fast überall wurde zunächst eine Waffenruhe vereinbart, um die Toten zwischen den Gräben zu begraben, oft halfen die „Feinde“ einander dabei. Und Geschenke gingen hin und her: Zigaretten, Zigarren, Schokolade, Kommissbrot und Marmelade, britische Fleischkonserven, Jam und Plumpudding. Whisky und Bier, Schals, Handschuhe, Zeitungen. Selbst Uniformknöpfe, Rangabzeichen, Pickelhauben, Taschenmesser und Bajonette wechselten die Besitzer. Adressen wurden für einen Besuch nach dem Sieg notiert, Briefe an Bekannte oder Verwandte im Feindesland übergeben, gemeinsam Gottesdienst gefeiert und Fußball gespielt.
„Wunderbare Menschen waren das, die französischen Soldaten bei Verdun. Wir haben zusammen Weihnachten gefeiert, haben gesungen, alles Essen geteilt und haben Karten gespielt. Der Feind wurde zum Freund – ein ganz besonderes Erlebnis“, erzählte der Großvater meiner Frau.
Tausende machten mit, über Hunderte Frontkilometer. Trotz Drohungen und Strafen hielten viele Einheiten die Waffenruhe wochenlang ein, einige bis März 1915. Auch an der Ostfront und nicht nur Weihnachten 1914 gab es zeitweise Waffenstillstände und vielerlei Begebenheiten der Menschlichkeit und Verbrüderung. Solche werden auch aus napoleonischen Kriegen berichtet, aus dem Krimkrieg 1853-56, aus dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 und auch aus dem Zweiten Weltkrieg.1 „Ritterlichkeit“ und ebenso Verstöße gegen diese Haltung gab es auf allen Seiten.
In den Jahren nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs (Militärjargon: „Kriegsausbruch“ – als wäre Krieg nicht von Menschen gemacht, sondern eine Naturkatastrophe wie ein Vulkan„ausbruch“) kamen trotz schärfster Strafandrohung an einigen wenigen Abschnitten weitere „Weihnachtsfrieden“ zustande, allerdings nur kurze Waffenstillstände. Mehrere, die versuchten diesen Frieden in die Wege zu leiten, wurden durch direkten Befehl von gegenüber erschossen. Vorbeugend hatten die Vorgesetzten das Verbot der „Fraternisierung“ durch Drohungen eingeschärft, denn darin stimmten die politischen und militärischen Führungen auf allen Seiten überein: So etwas durfte sich nicht wiederholen, es musste unterbunden werden.
Mit dieser Haltung hatte sich nach vier Jahren das mächtige Europa mithilfe neuer Vernichtungstechnik selbst zugrunde gerichtet. Das hatten die führenden Personen mit ihrer Kriegshetze und diejenigen, die bereit waren, „für Kaiser, Volk und Vaterland“ usw. ihr Leben einzusetzen, sicherlich nicht beabsichtigt. Es wurde als „Kollateralschaden“ in Kauf genommen und nicht als systembedingt verstanden.
Tatsächlich wurde erst nach einem zweiten Zig-Millionen-Massaker das Kriegführen dauerhaft weltweit völkerrechtlich geächtet und die UNO gegründet.
Und trotzdem werden heute Kriege geführt und Massentötungsmaschinen wie nie zuvor produziert, ver- und gekauft oder als Geschenke in Kriegsgebiete geliefert, auch von Deutschen und mit Deutschland Verbündeten.
Die in den Gräben und wir
Die, die zuerst aus den Gräben kamen – ihre Tat war entscheidend. Was war ihre Tat?
Sie missachteten Befehle – das Schlimmste, was ein Soldat tun kann. Gegen die Feindbildmalerei vertrauten sie, obwohl sie niemanden drüben kennen konnten, auf die Menschlichkeit der anderen und sie riskierten dabei ihr Leben. Was ging in ihnen vor? Was setzte ihre Tat voraus? Allgemein gefragt: Wie kann es zu so etwas kommen?
Offenbar hatten sie eine innere Ahnung von einer Verbundenheit mit den anderen, die so stark war, dass sie auf diese Verbundenheit vertrauten. Und es muss ihnen bewusst gewesen sein, dass sie, indem sie gehorchten, selbst zu der Hölle beitrugen, in der sie sich befanden, und dass sie ihren eigenen Beitrag zu dieser Hölle verringern konnten.
Diese mentalen Voraussetzungen sind über den Weihnachtsfrieden hinaus von Bedeutung.
Auch wir selbst, nicht nur andere Beteiligte, können an dem, was wir nicht wollen, Anteil haben. Dieser Gedanke erfordert ein Nachdenken über uns selbst, bei dem wir uns die Frage stellen: Inwiefern tragen wir selbst zum Problem bei, das wir lösen möchten?
Was werden sie 1914 an der Front empfunden und gedacht haben? Es gab wahrlich Anlass, über die selbstgemachte Hölle nachzudenken. Manche Befehle, z.B. zum Einsatz gegen Einheiten mit Maschinengewehren, kamen Todesurteilen gleich. Die toten Kameraden beider Seiten lagen im Schlamm zwischen den Schützengräben. Den eigenen Oberen schien das Leben der „Frontschweine“ (Selbstbezeichnung) nicht viel wert zu sein. Die weihnachtlichen Gefühle gaben den Anstoß, auf die menschliche Verbundenheit zu vertrauen. Die „Feinde“ hatten offenbar ebenfalls „die Schnauze voll von dem verfluchten Krieg“. Die Begegnungen ließen am Sinn des Krieges zweifeln. Leutnant Bruce Bairnsfather wünschte sich den allgemeinen Frieden, der Tag sei so wunderschön klar. „Das wäre ein gutes Finale gewesen.“ Trotz alledem scheint den meisten, die Weihnachten nicht schießen wollten, der Gedanke ferngelegen zu haben, dass sie die Quälerei auch ganz beenden könnten, die ja nur durch ihr Mitmachen geschehen konnte. Sie gehorchten bald wieder. Darum konnte die Nichtzusammenarbeit dieser „Friedensbewegung“ den Krieg nicht beenden. Ob sie meinten, als Gehorchende hätten nicht sie selbst die Verantwortung für ihr Handeln, sondern die Befehlenden?
Erst Anfang November 1918, als 17 Millionen Menschen umgebracht worden waren, kündigten deutsche Matrosen den Gehorsam und damit die Zusammenarbeit mit dem Krieg wirklich und wirksam auf. Sie verweigerten offen den Befehl zum „ehrenvollen Untergang“: zum Auslaufen gegen die überlegene britische Marine. Die Besatzungen mehrerer Schlachtschiffe meuterten. Sie verbündeten sich in Kiel mit der Arbeiterbewegung, zogen durch Deutschland und trugen so zum Aufstand gegen die Monarchie und zur Beendigung des Krieges bei.
Militärisches Denken blendet die Realität der Schwäche von Gewalt aus
Nach der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ 1914-1918 beeinflusste militärisches Denken weiterhin die Politik, bereits 1919 mit dem Versailler Vertrag. Das führte zur nächsten unermesslichen kollektiven Katastrophe. Der Grund ist: Militärisches Denken blendet systematisch wichtige Teile der Wirklichkeit aus, Teile der Wirklichkeit, die für jedes Zusammenleben und besonders für jedes Friedenstiften entscheidend sind und die auch für das Handeln der Soldaten entscheidend waren.
Feindbilder und die Schwäche von Gewalt. Die meisten Menschen glaubten und glauben der Feinbildmalerei: Öffentlich anerkannte Personen können leicht Ängste erzeugen. Vor 200 Jahren waren „die Bösen“ bei uns „die Demokraten“, vor 100 Jahren jeweils für die anderen „die Deutschen/Franzosen/Briten/usw.“ und überall „die Sozialisten“, im Kalten Krieg „die Kommunisten/Kapitalisten“, heute sind es „die Terroristen“.
Durch Feindbilder erzeugte Ängste verdrängen das, was wir wissen und was Martin Luther King so ausdrückte: „Das ist die Schwäche von Gewalt: Sie erzeugt genau das, was sie zerstören will. Anstatt das Böse zu verringern, vervielfältigt sie es. Mit Hilfe von Gewalt ermordet man den Hassenden, aber nicht den Hass. Gewalt vermehrt Hass. Wer Gewalt mit Gewalt erwidert, vervielfältigt damit die Gewalt: eine abwärtsführende Spirale. So wird eine sternenlose Nacht noch dunkler. Dunkelheit kann Dunkelheit nicht vertreiben, das kann nur Licht. Hass kann Hass nicht vertreiben, das kann nur Liebe.”
Mögliche eigene Anteile an dem, was wir abbauen wollen, kommen in den Blick.
1961 warnte US-Präsident Eisenhower: Der „militärisch-industrielle Komplex“, dessen Geschäft der Krieg ist, „gefährdet die Demokratie“. Er hat sich bis heute zu einem militärisch-finanz-industriell-journalistischen Komplex ausgewachsen. Hat Eisenhower tauben Ohren gepredigt? Die Bemühungen, andere Staaten oder Gruppen durch Schädigung oder Drohung zu beherrschen, werden fortgesetzt und durch Feindbildmalerei wie eh und je zu verschleiern versucht und grausame, menschenverachtende „Militärschläge“ neuer Technik gerechtfertigt. Nie endenden Krieg wünschen sich Rüstungsfirmen schon immer. Das Geschäft läuft. Steuerzahler zahlen. Und aktuell knallen die Sektkorken in den Chefetagen der Rüstungsmanager – und Bierfontänen bei den Mitarbeiter*innen.
Öffentlichkeit und Politik merken anscheinend nicht oder wollen nicht wahrhaben, dass wir uns in einer Abwärtsspirale mit unabsehbaren Folgen befinden.
Krieg, Militärjargon: „solidarischer Einsatz“, wird als normale „Verteidigung unserer Interessen“ dargestellt. Die Bundeswehr soll nach dem Willen der Regierung in deutschen Bildungseinrichtungen „selbstverständlich“ präsent sein. In Bayern sind die Bildungseinrichtungen nun per Gesetz dazu verpflichtet. Das deutsche Volk soll nach dem Willen des „Verteidigungsministers“ besonders auch mental „kriegstüchtig“ werden.
Positive Elemente der Wirklichkeit: Verbundenheit in einem Leben mit Risiko
Neben der Schwäche der Gewalt und der Gefahr der Abwärtsspirale blendet militärisches Denken positive Elemente der Wirklichkeit aus:
- Die allgemein-menschliche innere Ahnung von einer Verbundenheit mit allen anderen.
- Das stets mit Risiko verbundene und dennoch lohnende Vertrauen auf diese Verbundenheit, eine Grundbedingung menschlichen Zusammenlebens.
- Das Bewusstsein, dass wir auch als Gehorchende für die Hölle verantwortlich sind, zu der wir beitragen.
Diese Elemente führen unter anderem zum Impuls der Nichtzusammenarbeit mit Krieg, zum Wunsch, diesen in keinerlei Weise zu unterstützen und jeglichen Kriegsdienst zu verweigern. Albert Einstein sah 1931 die Internationale der Kriegsdienstgegner (WRI) als „diejenige Bewegung, die am sichersten die Abschaffung des Krieges verbürgt.“3
Krieg abschaffen durch Kriegsdienstverweigerung? Das Recht ist heute in einigen Ländern anerkannt. Die vielen Kriegsdienstverweigerer, ihre Organisationen sowie Friedensorganisationen, -aktionen, -demonstrationen, -informationen usw. tragen weltweit dazu bei, dass Krieg trotz Propaganda nicht überall als selbstverständliche „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ gilt. Doch Kriegsdienstverweigerung hat wohl keinen Krieg verhindern können, weil Kriegspolitiker immer genug Soldaten fanden.
Weniger Soldaten, dafür mehr Technik und Geld sind für Kriegführen heute nötig. Daher ist Kriegssteuerverweigerung international angezeigt.4
Ob das angestrebte deutsche Zivilsteuergesetz mehr als die Kriegsdienstverweigerung zur Abschaffung des Krieges beitragen kann, obwohl es den „Verteidigungs“haushalt unangetastet lässt? Immerhin könnten sich alle SteuerzahlerInnen entscheiden: Der Friedenswille wird allgemein herausgefordert.
Militärische Sprache verrät das eingeschränkte Denken. „Wir produzieren Sicherheit“ – mit diesem Werbeslogan lockte die Bundeswehr vor einigen Jahren junge Menschen, Soldat zu werden. Spätestens die verheerenden Folgen des Afghanistankrieges und was in der Ukraine geschieht, strafen diese Parole Lügen.
20 Jahre Einsatz militärischer Truppen in Afghanistan, zu Kosten von mehreren Billionen US-Dollar und Milliarden Euro. Und das Ergebnis ist: Zurück auf Anfang: das Taliban-Regime beherrscht das Land. Mariupol, Bachmut und die vielen total zerstörten Orte in der Ukraine – „Militärs – produzieren Sicherheit“ – ??
Dennoch wird bis heute ein maßloser Aufwand für das Militär, eine „Armee im Einsatz“, als Beitrag zu „unserer Sicherheit“ gerechtfertigt. Bedrohung oder Schädigung anderer Menschen können weder Sicherheit noch Gerechtigkeit noch Frieden schaffen.
Hannes Wader an den toten Soldaten auf dem Gräberfeld in der Champagne: „Ja, auch Dich haben sie schon genauso belogen. So wie sie es mit uns heute immer noch tun. Und Du hast ihnen alles gegeben: Deine Kraft, Deine Jugend, Dein Leben.“
Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit – vor dem ersten Schuss.
Die, die 1914 als erste aus dem Graben stiegen, riskierten ihr Leben und trafen zumeist Menschen wie sie selbst an. In der monatelangen Nacht des Todeswahns brachten sie das Licht der Menschlichkeit auf beiden Seiten wenigstens kurz zum Leuchten. Es wurde eine Zeit lang nicht geschossen, sie retteten also damit einer unbekannten Zahl von Menschen auf beiden Seiten der Front das Leben.
2008 weihten Soldaten in Frelinghien, dort, wo 1914 das Bierfass rollte, eine Erinnerungsstätte ein. Ein Enkel von Captain Stockwell und der Enkel eines deutschen Kommandeurs reichten einander die Hand. Deutsche und britische Soldaten spielten Fußball. 2011 spielten dort Erstliga-Jugendvereine aus Belgien, Deutschland, England und Frankreich ein Turnier.
Rutger Bregman berichtet in seinem hervorragenden, not-wendigen Buch „IM GRUNDE GUT“ vom Weihnachtsfrieden 1914 – und davon: Durch systematisch geplante Lichter-Weihnachtsbotschaften an Guerilleros erreichte die kolumbianische Regierung im jahrzehntelangen Bürgerkrieg, dass viele ihre Waffen niederlegten. Und sie konnte, auch durch Propaganda, die nicht aufhetzte, sondern zusammenbrachte, die blutige Rebellion schließlich beenden. Dafür erhielt Präsident Santos 2016 den Friedensnobelpreis – und die früheren Guerilleros gratulierten.
Um Frieden zu schließen und zu halten, müssen wir den Schützengraben verlassen.
Hochaktuell: Einen Weihnachtsfrieden in der Ukraine fordert der Eisenacher Appell:
„Eine Feuerpause von Weihnachten zu Weihnachten, ein ‚Weihnachtsfrieden‘, wäre ein Zeichen des Erbarmens und zugleich eine Unterbrechung dieser Logik [der Gewaltpolitik]. Ein Moment für Reflexion entstünde ohne die tägliche Todesdrohung. Aus der Feuerpause könnten Impulse erwachsen, das Töten insgesamt und auf Dauer zu beenden, und einen längeren zeitlichen Raum zu schaffen, um die Konflikte fair beizulegen.”
Vor diesem Hintergrund und mit dem Weihnachtsfrieden von 1914 als Beispiel appellieren die Aktiven der Niemöller-Bonhoeffer-Stiftung an Wladimir Putin und Wolodymyr Selenski:
„Vereinbaren Sie eine Waffenruhe vom westlichen Weihnachtsfest bis zum östlichen Weihnachtsfest, vom 24. Dezember 2024 bis zum 7. Januar 2025. Zeigen Sie gemeinsam Erbarmen mit den Menschen. Damit die Menschen, Zivilisten und Soldaten, 14 Tage der Ruhe und Sicherheit haben, um das Weihnachtsfest zu feiern und ihre Lieben zu treffen, zu kontaktieren.“
Das Beispiel Kolumbiens zeigt: Absichtlich herbeigeführte Weihnachtswunder können zum Frieden helfen.
Anmerkungen
1 Film „Merry Christmas“ von Christian Carion; Bücher: Michael Jürgs: „Merry Christmas“ (2005); Heinrich Rieker: „Nicht schießen, wir schießen auch nicht!“ (2007); Malcolm Brown, Shirley Seaton: „Christmas Truce“ (1984).
2 http://www.berliner-zeitung.de/politik/geheimdienste-ist-der-nato-buendnisfall-der-schluessel- ,10808018,23648258.html
3 Wegen Hitler gab er 1933 den Pazifismus auf.
4 Vgl. www.netzwerk-friedenssteuer.de
Zum Autor
Martin Arnold ist Redakteur der gewaltfreienaktion.de.
Frühere Versionen dieses Artikels erschienen 2014 im „Friedensforum“ und auf https://www.aixpaix.de/autoren/arnold/weihnachtsfrieden_1914-2014-0104.html.