Von Dietrich Becker-Hinrichs
Norwegen 1942: die Lutherische Kirche und die Lehrer*innen widersetzten sich erfolgreich der Naziideologie
Am 9. April 1940 überfiel die deutsche Armee Norwegen. In kurzer Zeit brach der militärische Widerstand der norwegischen Armee zusammen. König Hakon und wichtige Regierungsbeamte flohen ins Exil nach England. Hitler setzte Josef Terboven als Reichskommissar ein, um aus Norwegen einen nationalsozialistischen Staat zu formen. Dazu sollten zunächst sämtliche Organisationen gleichgeschaltet werden. Im Februar 1941 ermächtigte Terboven die Nazipartei Norwegens, die Nasjonal Samling, eine Organisation zu schaffen, der alle Berufsgruppen des öffentlichen Dienstes angehören sollten. Doch die betroffenen Gewerkschaften, Genossenschaften und Verbände reagierten mit offenem Protest. Dann wollte Terboven wenigsten die scheinbar politisch neutralen Sportvereine an die National Samling angliedern. Daraufhin stellten die Vereine ihre Arbeit vollständig ein. Bis Ende des Krieges gab es in Norwegen keine Sportwettkämpfe mehr. Diese erste Aktion an der „Sportfront“ mag harmlos oder bedeutungslos erscheinen. In Wirklichkeit spielte sie eine beachtliche Rolle, da sie viele junge Menschen dazu brachte, sich des Schadens bewusst zu werden, der von dem neuen Regime ausging.
In diesem Klima fortschreitender Mobilisierung der Gesellschaft eröffneten sich, wie die Norweger es nannten, zwei weitere „Fronten“, eine Kirchenfront und eine Schulfront. Dies war sicher kein Zufall, sondern zeugte von dem kollektiven Willen der norwegischen Gesellschaft, sich keine ideologischen Ketten anlegen zu lassen. Der Kampf des zivilen Widerstandes konzentrierte sich auf die Werte, die beide, Kirche und Schule repräsentierten.
Der Widerstand der Lutherischen Kirche
Die norwegische Kirche war eine Staatskirche, zu ihr gehörten damals 96 % der norwegischen Bevölkerung.
Zunächst wendete sich der Protest gegen einen Erlass des gleichgeschalteten norwegischen Schul- und Kirchenministeriums zur Einschränkung des traditionellen Rechts der Pfarrer (1), der Polizei Informationen vorzuenthalten, des sog. Beichtgeheimnisses. Dabei ging es natürlich um geheime Informationen über den Widerstand. Bischof Eivind Berggrav wandte sich in einem Hirtenbrief an alle Gemeinden und verteidigte das Recht der Pfarrer, der Polizei keine Informationen weiterzugeben. Er klagte die NS-Regierung an und kritisierte sie scharf. Terboven versuchte mit einer Erklärung die Kirchen für sich zu gewinnen, indem er von dem gemeinsamen Kampf gegen den Bolschewismus sprach, für den Deutschland kämpfe. Doch die Bischöfe wollten davon nichts wissen und lehnten eine Zusammenarbeit glatt ab. Um das NS-Regime in Norwegen noch stärker im norwegischen Staat zu verankern, wurde ein norwegischer Nationalsozialist, Vidkun Quisling zum Ministerpräsidenten bestimmt. Er sollte mit allem Pomp in der Trondheimer Kathedrale in Oslo in sein Amt eingeführt werden. Die Kirche boykottierte die Feierlichkeiten zur Amtseinführung und lehnte jede Mitwirkung ab. Die Gläubigen blieben dem Staatsakt in der Kathedrale fern. In einem weiteren Hirtenbrief bekundete der Bischof, dass die Kirche sich nicht an die Weisungen des neuen Staates gebunden fühlte. Er rief alle Pfarrer auf, sich dieser Position anzuschließen. Die Pfarrer zogen nach und viele wurden ihrer Ämter enthoben. Die Gehaltszahlungen wurden eingestellt.
Daraufhin kappten die Bischöfe und Pfarrer offiziell alle administrativen Beziehungen zum norwegischen Staat und verzichteten auch auf ihr Einkommen. Sie wollten aber weiterhin Seelsorger ihrer Gemeinden bleiben und wurden aus den Gemeinden finanziell unterstützt. Zahlreiche Pfarrer wurden verhaftet und der Bischof unter Hausarrest gestellt. Mehrere hunderte Intellektuelle und Lehrer unterzeichneten daraufhin eine Petition zur Freilassung Berggravs und der anderen Gefangenen.
In ganz Europa wurde der Widerstand der norwegischen Pfarrer zur Kenntnis genommen. Wieder wurden einige Pfarrer verhaftet und in Lager deportiert, doch ohne Erfolg. Bis zum Ende des Krieges gab es in Norwegen keine Staatskirche mehr.
Der Widerstand der Lehrer*innen und der Bevölkerung
Schließlich wandte sich Quisling der Lehrerschaft zu. Über die Schulen sollte die NS-Ideologie in die Herzen der Kinder und Jugendlichen gepflanzt werden. Zunächst verabschiedete Quisling ein Gesetz zur Bildung eines NS-Lehrverbandes an. Alle Lehrer*innen mussten ihm beitreten und dabei eine Verpflichtungserklärung unterschreiben, in der sie die Prinzipien der nationalsozialistischen Erziehung anerkannten.
Über 90 Prozent der 14.000 Lehrer*innen kamen dieser Aufforderung nicht nach. Sie verdeutlichten dagegen in einer öffentlichen Erklärung, dass sie sich nicht gleichschalten lassen würden. Auch als mit der Entlassung der Lehrpersonen gedroht wurde, erschienen alle weiterhin in ihren Schulen und unterrichteten nach den alten Regeln und Gesetzen weiter. Da sie kein Gehalt vom Staat mehr bekamen, wurden sie von den Eltern unterstützt. Außerdem schrieben 200.000 Eltern persönliche Briefe an das Kultusministerium und erklärten, dass sie ihre Kinder nicht im Geiste des Nationalsozialismus erziehen lassen wollten.
Schließlich griffen die Nationalsozialisten zu härteren Maßnahmen und schickten ca. 1000 willkürlich ausgesuchte Lehrpersonen in Straflager. Im Lager erließ die Regierung ein Ultimatum an die gefangenen Lehrer*innen, aber nur wenige lenkten ein. 687 Lehrpersonen wurden in Viehwagen in ein anderes Straflager, etwa 200 Kilometer von Oslo entfernt, gebracht. Auf den Bahnhöfen versammelten sich die Kinder und sangen für sie bei der Durchfahrt des Zuges Lieder. Die Lehrer*innen gaben nicht nach und weigerten sich weiterhin zu unterschreiben.
Am Ende gaben die Nazis nach. Die Lehrpersonen wurden wieder freigelassen. Der von den Nationalsozialisten eingesetzte Ministerpräsident Quisling wird mit dem Satz zitiert, den er vor Lehrer*innen in einer Oberschule in Stabbek gesagt haben soll: „Ihr Lehrer habt mir alles zerstört.“
Dieses Beispiel zeigt: Entschlossener, offener gewaltfreier Widerstand in großer Zahl konnte auch die härtesten Besatzer in die Knie zwingen.
Anmerkungen
1) Die Ordination von Frauen wurde in der Lutherischen Kirche von Norwegen erst 1961 eingeführt, insofern ist die ausschließlich männliche Form hier korrekt. Es durfte damals noch keine Pfarrerinnen geben.
Zum Autor
Dietrich Becker-Hinrichs war lange Jahre evangelischer Pfarrer in Gemeinden in Lahr und Bretten, seit seiner Pensionierung ist er wieder zurück nach Lahr gezogen. Er ist seit seiner Kriegsdienstverweigerung 1976 in der Friedensbewegung aktiv und ist seit vielen Jahren Vorsitzender der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden.