Gewaltfreier Widerstand gegen die Vertreibung im Westjordanland

Die Combatants for Peace, israelische und palästinensische Frauen und Männer, stellen sich gewaltfrei gegen Vertreibung im Westjordanland. Inmitten des Leids leben sie Frieden vor.
Hier ist das Titelbild zu sehen. Es zeigt zuversichtliche Mitglieder der Combatants for Peace, Amira Musallam (rechts), die das Friedenszeichen zeigt, und Mai Shahin (links) vor israelischen Soldaten, die ihnen den Weg versperren.
Amira Musallam (rechts) und Mai Shahin (links) von den Combatants vor Peace vor israelischen Soldaten (Foto: Amira Musallam)

von Kevin Kaisig

Es ist Donnerstagabend in Bayt Jala und die Dämmerung setzt ein. Sie legt ihr sanftes Licht über Steinmauern und Olivenbäume sowie auf einen Pfad. Hier schreitet langsamen Schritts eine Gruppe von Menschen voran. Sie rufen „Salaam“, „Schalom“ und „Peace“ und nähern sich einer Absperrung des israelischen Militärs. Israelische Soldaten in voller Montur, bewaffnet mit Sturmgewehren, versperren den Weg zum Grundstück der Familie Kisiya. Die Kisiyas leben seit mehreren Generationen auf diesem Grundstück in Al-Makhrour, einem Teil von Bayt Jala, nicht weit von Bethlehem im Westjordanland. Al-Makhrour ist einer der wenigen grünen Flecken im Umkreis mit vielen Oliven- und Obstbäumen. Am 31. Juli kamen israelische Siedler und vertrieben gewaltsam die Familie Kisiya von ihrem Land.

Amira Musallam, eine christliche Palästinenserin, war dabei. Sie beschreibt die Ereignisse: „Am 31. Juli waren mein Sohn, der 9 Jahre alt ist, und sein Vater [mein Ex-Mann] auf dem Land. Plötzlich kamen Siedler mit Waffen, brachen das große Tor auf, richteten die Waffen auf meinen Sohn und meinen Ex-Mann und bedrohten sie; sie sollten das Land verlassen. Die Siedler kamen ohne das Militär, ohne die Polizei. Nur Siedler, die in der Nähe in einer Siedlung namens Gush Etzion leben. Nach etwa 15 bis 20 Minuten kamen die Polizei und die Armee. Und sie blieben da, um die Siedler zu beschützen. Sie erlaubten ihnen, alle unsere Sachen mitzunehmen, wie Tische, Stühle, sogar den Herd. Alles, was uns gehört, haben sie auf die Straße gestellt, unter dem Schutz des Militärs. Und sie brachten Jihan [meinen Ex-Mann] auf die Polizeiwache und gegen ihn wurde eine einstweilige Verfügung erlassen, um ihm das Betreten seines Grundstücks für zwei Wochen zu untersagen. Mein Sohn weinte, weil sie all seine Spielsachen kaputt gemacht hatten. Sie hatten sie nach draußen geworfen und alles kaputt gemacht. Bei den Siedlern waren minderjährige Kinder dabei. Sie waren 9, 10, 11 Jahre alt und zwei Erwachsene hatten Waffen dabei. Auch die Kinder halfen dabei, uns von unserem Land zu vertreiben.“

Seither gibt es auf der anderen Seite des Tals ein gewaltfreies Protestcamp. Regelmäßig marschieren die Aktivist*innen durch das Tal bis zur Absperrung der Militärs vor dem Grundstück der Kisiyas, um das Land zurückzufordern. Amira Musallam ist Mitglied der Combatants for Peace. Diese israelisch-palästinensische Graswurzelbewegung setzt sich seit 2006 gewaltfrei für ein Ende der Besatzung, für Frieden, Gleichstellung und Freiheit ein. Viele der Mitglieder sind ehemalige israelische Soldat*innen oder palästinensische Widerstandskämpfer*innen, die den Waffen abgeschworen haben. In den Jahren 2017 und 2018 wurde die Organisation für den Friedensnobelpreis nominiert.

Die Protestaktionen

Auch an diesem Donnerstagabend des 15. August 2024 marschieren sie durch das Tal und die Anhöhe hinauf. Sie marschieren in einem Kreis, die Frauen voran. Dabei beten und singen sie, die Männer im Zentrum halten Kerzen als Zeichen für Licht und Frieden. Vor den israelischen Soldaten bleiben sie stehen. Immer wieder rufen sie „Frieden“ in unterschiedlichen Sprachen. Mehrere Leute ergreifen das Mikrofon und sprechen auf Hebräisch, Arabisch und Englisch, während eine Drohne am Himmel erscheint und unheilvoll über der Ansammlung zu schweben beginnt.

„Wir sind heute hier, um unsere Solidarität mit der Kisiya-Familie zu erklären und Gerechtigkeit sowie ein Ende des Kriegs und des Blutvergießens zu fordern […] mögen wir uns alle daran erinnern, dass wir Licht sind und das wir die Fähigkeit haben, eine heilende Kraft zu sein.“ Die Stimmung ist ruhig und entschlossen, aus den Gesichtern sprechen die tiefe Sehnsucht nach Frieden, die schwere Last der erfahrenen Gewalt und der große Mut, den die Combatants for Peace aufbringen, um für eine bessere Zukunft einzustehen. „Ihr versteckt euch hinter den Waffen der Soldaten, die euch beschützen, aber ihr sollt wissen: Eure Stärke ist vorübergehend, die Gauner werden nicht ewig siegen. Lasst euch nicht täuschen, die ganze Welt schaut zu!“ Es wird ein Gedicht von Mahmud Darwisch und ein weiteres auf Englisch vorgetragen: „Das was mir passiert, wird allen passieren, wenn wir nicht unsere Stimmen erheben“. Am Ende wendet sich eine junge Frau direkt an die israelischen Soldaten und verleiht der Unterdrückungserfahrung, der Erfahrung, nicht gehört, nicht gesehen, nicht wahrgenommen werden zu wollen in Rap-Vers eine aufrüttelnde Stimme: „Ihr gebt an mit eurer Demokratie, aber Überraschung: Demokratie nur für wenige kann nie den Test bestehen“.

Hier ein Video der Protestaktion.

Der Hintergrund der Besatzung

Seit dem Oslo-II-Abkommen ist Al-Makhrour und das Grundstück der Kisiya-Familie Teil der sogenannten C-Gebiete. In Folge des Abkommens wurde das Gebiet des besetzten Westjordanlands drei verschiedenen Kategorien zugeordnet: A, B und C. Die A-Gebiete unterstehen der Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde und stehen unter palästinensischer Zivil- und Sicherheitsverwaltung. Sie machen rund 18 Prozent des Gesamtgebiets aus und in ihnen leben circa 50 Prozent der Bevölkerung des Westjordanlands. Die B-Gebiete unterstehen der palästinensischen Zivilverwaltung und gemeinsamer israelisch-palästinensischer Sicherheitsverwaltung. Sie machen rund 20 Prozent des Gebiets aus und circa 40 Prozent der Bevölkerung leben hier. Die C-Gebiete schließlich unterstehen fast vollständig der israelischen Zivil- und Sicherheitsverwaltung und umfassen 62 Prozent des Gebiets. Hier befinden sich agrarwirtschaftliche und freie Flächen, in denen Entwicklung stattfinden kann.

Hier ist Bild 1 zu sehen. Es zeigt eine Karte des Westjordanlands mit den A-, B- und C-Gebieten.
Das Westjordanland und die A- (grün), B- (dunkelrot) und C-Gebiete (hellrot). Foto: Wikimedia Commons.

Seit 1972 haben immer mehr jüdische Menschen im Westjordanland eigene Siedlungen angelegt. Damals waren es knapp 1.200 Siedler*innen. Im Jahr 2010 lebten 310.000 israelische Siedler*innen in 200 Siedlungen der C-Gebiete. Dies geht einher mit einer Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus diesen Gebieten. Die israelische Zivilverwaltung erteilt Palästinenser*innen kaum Baugenehmigungen, womit diese oft gezwungen sind, in nicht genehmigten Bauten zu leben. Die Administration reagiert mit Abrissen. Diese Maßnahmen laufen dem humanitären Völkerrecht zuwider, das für die besetzten Palästinensergebiete gilt. Rund ein Drittel des C-Gebiets als Naturschutzgebiet oder geschlossenes Militärgebiet deklariert. Laut eines Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 19. Juli 2024 verstoßen die israelische Besatzung palästinensischer Gebiete und die israelische Siedlungspolitik in diesen Gebieten gegen internationales Recht. Für eine Interpretation der Rechtslage siehe hier.

Der Fall der Familie Kisiya ist also kein Einzelfall. Amira Musallam berichtet, wie ihrer Familie Baugenehmigungen kontinuierlich verwehrt wurden. Ihr kleines Restaurant erhielt keine Lizenz und wurde von 2011 bis 2019 fünf Mal vom israelischen Militär zerstört. Im Schatten der Ereignisse in Gaza wird die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus C-Gebieten heftiger. Nach Angaben des Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) wurden zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 29. Juli 2024 insgesamt 569 Palästinenser*innen im Westjordanland und in Ost-Jerusalem getötet. Des Weiteren hat die israelische Administration 1.311 palästinensische Gebäude zerstört oder konfisziert.

Gewaltfreiheit: Der Weg ist das Ziel

Die Mitglieder der Combatants for Peace stellen sich in aller Entschlossenheit und mit beeindruckendem Mut gewaltfrei gegen diese Entwicklungen. „Wenn wir mit der Gewalt der Besatzung konfrontiert werden, entscheiden wir uns für den gewaltfreien Widerstand und für die Stärkung der Stimmen von Frauen, palästinensischen und israelischen Frauen, an vorderster Front“. Es ist schon dunkel in Al-Makhrour, als sich die Protestgruppe auf den Rückweg macht. Zurück im Camp essen sie gemeinsam im Solidaritätszelt und tauschen im Kreis ihre Erfahrungen aus. „Wir wissen um die Kraft, die aus dem Aufbau einer Gemeinschaft entsteht“.

Auch Amira Musallam gibt der gewaltfreie Widerstand Hoffnung: „Ich war wirklich stolz auf das, was wir heute getan haben. Es war wirklich bewegend: gemeinsam mit israelischen Frauen, jüdischen Frauen, muslimischen Frauen, mit und ohne Hidschab, gemeinsam im Angesicht der Ungerechtigkeit. Wir wollen, dass diese Botschaft nicht nur nach Al-Makhrour, sondern in das ganze Land getragen wird!“.

Hier ist Bild 2 zu sehen. Es zeigt Aktivist*innen der Combatants vor Peace im Solidaritätszelt des Protestcamps.
Aktivist*innen der Combatants for Peace im Solidaritätszelt des Protestcamps (Foto: Combatants for Peace).

Diese wichtige Friedensbotschaft tragen wir als „gewaltfreie aktion“ gerne weiter. Die Combatants for Peace haben gemeinsam ein Leben in Frieden begonnen und zeigen so, dass und wie Frieden in Israel und Palästina möglich ist. Sie leben es vor: Vertreter*innen muslimischer, christlicher und jüdischer Bevölkerungsgruppen schließen sich zusammen, praktizieren untereinander Frieden und engagieren sich gemeinsam für Gerechtigkeit. Damit gehen sie in der gewaltfreien Bewegung voran. Ihr Zusammenschluss und ihre Aktionen enthalten im Kern bereits das Ziel, für das sie sich einsetzen. „Zielenthüllend“ – so nannte der Nestor der internationalen Friedensforschung Johan Galtung ein Qualitätsmerkmal der gewaltfreien Aktion in seinem Buch „Der Weg ist das Ziel“. Die ersehnte Zukunft wird damit in den zielenthüllenden Aktionen selbst bereits geschaffen.

Unbewaffnete Schutzbegleitung für Gaza und das Westjordanland?

Im Juli war Amira Musallam mit einer vierköpfigen Untersuchungskommission im Westjordanland und hat über das ganze Land Interviews mit der Bevölkerung über unbewaffnete zivile Schutzbegleitung (UCP) geführt. Was würde passieren, wenn 100 internationale zivile Schutzkräfte aus dem Ausland in das Westjordanland und nach Gaza kommen würden, um Zivilist*innen zu schützen? Würde das helfen? Und wie müsste vorgegangen werden. Der Bericht soll Ende August 2024 veröffentlicht werden.

Aber so viel kann schon gesagt werden: UCP ist von hoher Bedeutung. Schon jetzt hilft es vielerorts zu verhindern, dass Leute vertrieben werden und sicherer leben. Amira Musallam wurde selbst, als sie zwölf Jahre alt war und ihr Haus bombardiert wurde, von zivilen Schutzkräften begleitet. Doch es gibt große Herausforderungen. Es braucht insbesondere eine bessere Koordination zwischen den einzelnen lokalen Initiativen und viel logistische und finanzielle Unterstützung. Mel Duncan und Nonviolent Peaceforce engagieren sich dazu auf internationaler Ebene, worüber wir hier berichtet haben. Aber auch Kleinigkeiten helfen: vor Ort werden einfachste Dinge wie Essen und Fahrdienste benötigt, international mehr Aufmerksamkeit und ein Bewusstsein der Verhältnisse im Westjordanland, Gespräche und Advocacy Arbeit.

Nach oben scrollen