Können wir wehrhaft ohne Waffen sein?

Wie wollen wir uns schützen und was macht uns wehrhaft? Eine Frage, die viele Menschen zurzeit umtreibt, angesichts der Debatten und Planungen zur Kriegstüchtigkeit, Aufrüstung und Wehrpflicht. Bernhard Lass berichtet über einen gut besuchten Vortrag von Martin Arnold in Iserlohn.
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Foto: Stephan Brües

Von Bernhard Lass

Iserlohn. Wie wollen wir uns schützen und was macht uns wehrhaft? Eine Frage, die viele Menschen zurzeit umtreibt, angesichts der Debatten und Planungen zur Kriegstüchtigkeit, Aufrüstung und Wehrpflicht. So war es nicht verwunderlich, dass an die hundert Menschen am Freitag den Weg in das St. Pankratius Forum an der Aloysius Kirche in Iserlohn gefunden haben. Eingeladen hatte die Ökumenische Basisinitiative für Frieden Iserlohn gemeinsam mit dem BildPunkt, der katholischen Erwachsenenbildung Iserlohn und dem Weltladen Iserlohn. Sie konnten den Friedensforscher und Pfr. i.R. Dr. Martin Arnold, Vorsitzender des Instituts für Friedensarbeit und gewaltfreie Konfliktaustragung gewinnen, sein Konzept der sozialen Verteidigung, „Wehrhaft ohne Waffen“, an diesem Abend vorzustellen.

Gott will nicht diese Erde zerstören. Er schuf sie gut, er schuf sie schön.“

In zwei Teilen und doch einer Einheit wurde über eine Alternative zur Kriegstüchtigkeit nachgedacht. Der Abend begann mit einem Friedensgebet mit Friedensmahl, dem sich als zweiter Bestandteil, zu dem weitere Gäste hinzukamen, der Vortrag von Dr. Arnold und eine angeregte Gesprächsrunde anschloss.

Das Friedensgebet:

Gott will mit uns die Erde verwandeln. Wir können neu ins Leben gehn.“

Eingeleitet von Pfr. i.R. Paul-Gerhard Zywitz wurde in diesem Gebet wieder einmal deutlich, beten verändert. Im Gebet um Frieden bitten, ringen und ihn suchen, ist ein aktiver Akt. Es stärkt die Kraft, die den Raum zur Besinnung und Reflexion schafft, im Wissen, dass wir nicht alles in eigenen Händen halten, sondern es uns von Gott geschenkt werden muss. Ausgesprochen und vor Gott gebracht, was im Argen liegt, wurde im Versöhnungsgebet von Coventry, vorgetragen von Helena und Norbert Haack. Gepriesen und besungen, wo und wie Gott ein Helfer, Ermutiger und Beauftragter ist, der uns mit seinem Geist erfüllt und neue Wege aufzeigt wurde in den Liedern, „Gott gab uns Atem“, „Sonne der Gerechtigkeit“, „Selig seid ihr“, die, wie die anderen von Konrad Dickhaus am Flügel begleitet wurden. Das Lied, „Wenn das Brot, das wir teilen“, leitete über zum Friedensmahl mit Trauben, Brot und Käse, was an den Tischen miteinander geteilt wurde. Eine Stärkung, die zum mutigen Handeln führen kann.  

„Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihn auch die andere hin.“ (Mt. 5,39)

In einem Rollenspiel empfinden, was diese Worte bedeuten und in einem auslösen, stand im Mittelpunkt des Friedensgebets. Zwei freiwillige, mutige Frauen, die sich, angeleitet von Dr. Arnold, auf das Experiment eingelassen hatten, führten spielerisch vor, was dabei geschieht. Es ist keine Unterwerfung, sondern ein Akt des zivilen Ungehorsams und des Widerstands, den Jesus in seiner Bergpredigt hervorrufen will, war die Quintessenz. Denn wer die zweite Wange hinhält, verblüfft und irritiert nicht nur sein Gegenüber, sondern zeigt ihm, dass er oder sie sich nicht unterwerfen lässt, sondern die eigene Würde behält und sich widersetzt. Ihr intensiver entschlossener, selbstbewusster Blick aus dem wieder erhobenen Haupt bringt das Gegenüber aus seinem Konzept und eröffnet den Einstieg in eine veränderte Situation.

Pfr. i.R. Zywitz begrüßt de Teilnehmenden
Paul-Gerhard Zywitz begrüßt die Teilnehmenden. V.l. Referent Pfr. i.R. Dr. Martin Arnold, Annette Krewett, Ökumenische Basisinitiative für Frieden, Pfr. i.R. Paul-Gerhard Zywitz, Foto: Bernhard Lass

Der Vortrag

Beispiele und Forschungsergebnisse, die Alternativen aufzeigen

So weit die christliche Theorie. Doch ist das auch im realen Konflikt anwendbar? Darauf ging Dr. Arnold in seinem anschließenden Vortrag ein.

Krieg zerstört, was verteidigt werden soll, Menschen, Städte, Umwelt, nicht nur in der Ukraine. Im Atomzeitalter gefährdet er das Überleben der gesamten Menschheit. Aufrüstung ohne Krieg soll abschrecken, erhöht aber zugleich die Unsicherheit und Kriegsgefahr, weil sich andere bedroht fühlen können. Krieg und Rüstung befeuern massiv die Klimakatastrophe. Wie können da Alternativen aussehen?

Es sind Beispiele aus der Geschichte, in denen gewaltfreier Widerstand militärische oder politische Unterdrückung verhindert oder aufgelöst und überwunden hat. Der wohl allgemein bekannteste ist der Widerstand der Inder gegen das Britische Königreich. Angeführt von Mahatma Gandhi, führte er ohne den Einsatz von Waffengewalt zur Unabhängigkeit Indiens.

Herrschaft braucht Gehorchende

Doch auch in der deutschen Geschichte finden sich Beispiele der Gewaltfreiheit.

Kapp-Putsch: Der sogenannte Kapp-Putsch, am 13. März 1920, in dem sich Wolfgang Kapp zum Reichskanzler erklärt. Doch alle Beamten im Regierungsapparat, den Banken und an wichtigen Schaltstellen der Wasser- und Elektroversorgung verweigern sich der Gefolgschaft durch zivilen Ungehorsam.  Es war der größte Generalstreik der deutschen Geschichte, der die Putschregierung jeder Handlungsfähigkeit beraubte und zur Aufgabe zwang.

Ruhrkampf: Ähnliches geschah im sogenannten Ruhrkampf 1923-1925. Ohne militärischen, allein durch einen gewaltfreien, passiven Widerstand wurden die französischen und belgischen Truppen gezwungen die Besetzung des Ruhrgebietes aufzugeben und abzuziehen. Die Geldzahlungen an die Siegermächte wurden eingestellt, die Bürgermeister legten Protest ein und verweigern jede Zusammenarbeit, die Bahnmitarbeiter streikten und es gab keine Kohlelieferungen mehr. Die konzertierte Verweigerung machten es den Besatzern unmöglich ihr Ziel zu erreichen und führte zu einem Fiasko für die Franzosen, weil die Reparationen ausbleiben.

Mauerfall: Fast alle werden sich an das Jahr 1989 in Deutschland erinnern. Es war die friedliche Revolution der Menschen in der DDR, die die Mauer zu Fall brachte und zur Aufgabe der Deutschen Demokratischen Republik als repressiver Staat führte. Trotz der Drohungen und dem Aufmarsch des Militärs, nicht nur in Leipzig, blieben die Menschen auf ihrem Weg, friedlich ihre Freiheit zu erlangen.

Rosenkranzgebet besiegte die Macht des Diktators: Weit weg von uns und doch ein erwähnenswertes Beispiel ist die Überwindung der Diktatur des Marcos Regime auf den Philippinen. Eine unblutige Revolution, die als Rosenkranzrevolution in die Geschichte eingegangen ist. Über zwei Millionen Menschen mit Rosenkränzen in den Händen stellten sich den heranfahrenden Panzer entgegen, die auf die Menschenmenge losfuhren. Die Demonstranten fielen auf die Knie, die Gesichter auf die kommenden Panzer gerichtet. Sie hoben ihre Rosenkränze hoch und fingen an zu beten. Nach einer Weile begannen auch die Soldaten zu beten. Die Tanks hielten vor den betenden Menschen an. Das Rosenkranzgebet besiegte so die Macht des Diktators.

Getragen von der „Gütekraft

„Was alle Beispiele der sozialen Verteidigung gemeinsam haben, ist die Gütekraft“, lautet die Essenz, die Dr. Arnold aus den Grundlagen für sein Konzept der Wehrhaftigkeit ohne Waffen zieht.

Bei Gandhi findet er die Satyagraha – Kraft, die aus Wahrheit und Liebe entsteht. Bei Martin Luther King ist es die strength to love – Stärke, zu lieben und bei Hildegard Goss-Mayr, einer Friedensaktivistin und Schriftstellerin, die Kraft der Gewaltfreiheit.

Egal ob religiös oder atheistisch motiviert, die Gütekraft (Übertragung des Begriffs „Satyagraha) ist die Grundlage aller Konzepte der Gewaltfreiheit.

„Wir sollten dem Gegenüber „Würde anbieten“, denn aus dem Bewusstsein der eigenen Würde können wir jedem Menschen mit Wohlwollen begegnen und mutig und beharrlich mit Wort und Tat für gerechtes, würdiges Handeln eintreten“, sagt Dr. Arnold und verweist dabei auf die Erfahrungen und Beispiele der Mütter und Väter der Gewaltfreiheit.

Wir müssen uns entscheiden

Was sind die Alternativen?

Minister Pistorius sagt: „Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein. … Wir müssen Abschreckung leisten, um zu verhindern, dass es zum Äußersten kommt. Wir müssen uns auch darauf einstellen, dass wir im äußersten Fall angegriffen werden könnten … Dann müssen wir in der Lage sein, einen Verteidigungskrieg zu führen.“

Was heißt das?

Schaut man sich verschiedene Studien zu den Grenzen militärischer Verteidigung an, so liest man: „Moderne Industriegesellschaften sind strukturell nicht verteidigbar.“ Die Eskalation in eine atomare Kriegsführung kann zum Untergang der Menschheit führen. Und in dichtbesiedelten besetzten Gebieten gibt es keine militärische Verteidigung ohne die Vernichtung der Zivilbevölkerung.

Die Soziale Verteidigung sagt:

Niemand wird durch Soziale Verteidigung bedroht, Soziale Verteidigung bietet keinen Grund, keine Rechtfertigung, keinen Vorwand für einen Angriff.

  • Soziale Verteidigung vermeidet das Sicherheitsdilemma: immer gefährlichere gegenseitige Bedrohung bei immer weiterer „Aufrüstung zur Abschreckung“.
  • Einübung der gewaltfreien Grundhaltung „Würde anbieten“: Aus dem Bewusstsein der eigenen Würde jedem Menschen mit Wohlwollen begegnen und mutig und beharrlich mit Wort und Tat für gerechtes, würdiges Handeln eintreten.
  • Regelmäßige Schulungen in Schulen und Erwachsenenbildung in möglichst vielen Bereichen: Verwaltung, Wirtschaft, Gewerkschaften, religiöse Gemeinschaften, Sportvereine usw.
  • Öffentliche, für alle potenziellen Aggressoren sichtbare Handlungskonzepte der gewaltfreien Sozialen Verteidigung in staatlichen und zivilgesellschaftlichen Bereichen.

Wenn – wie in NATO-Übungen – mit militärischem Angriff und Besetzung gerechnet wird, gibt es gewaltfreie Möglichkeiten:

  • Offene Stadt – gemäß Völkerrecht. Die Stadt wird ohne militärische Verteidigung zum Schutz vor Zerstörung dem Gegner übergeben, wie im 2. Weltkrieg Brüssel, Rom, Paris, Göttingen, Ahlen und viele andere.
  • In besetzten Gebieten wird gewaltfreier Widerstand und Soziale Verteidigung zum Bevölkerungsschutz ausgeübt und die Besatzer durch zivilen Ungehorsam an einer reibungslosen Okkupation gehindert.

Doch auch das Konzept der Sozialen Verteidigung ist nicht ohne Risiken für jede und jeden einzelnen. Auch hier stellt man seine Unversehrtheit und sein Leben ggf. aufs Spiel. Vor allem kann sie nicht von oben befohlen werden, sondern setzt die innere Haltung und Überzeugung zur „Gütekraft“ voraus. Sie kann aber gemeinschaftlich eingeübt und erlernt werden. Das findet zurzeit in mehreren Modelregionen in Deutschland statt. Infos unter: https://wehrhaftohnewaffen.de

„Wenn wir die Fragen nicht vor einem Krieg als Gesellschaft beantworten, entscheiden später allein die Befehlshabenden“, sagte Dr. Arnold zum Schluss und rät sich selbst die Frage zu stellen: Woran würde ich mich beteiligen?

Mit hohem Interesse engagiert dabei.
Die Zuhörer*innen des Vortrags, Foto: Bernhard Lass

Intensiver Austausch

Die Antwort fällt den Teilnehmenden nicht leicht. Innere Zerrissenheit, Unsicherheit mischen sich mit dem Wunsch, sich ganz praktisch mit dem Konzept auseinanderzusetzen und die Soziale Verteidigung einzuüben. Ein Ohnmachtsgefühl und das Vermissen von intensiven Beobachtungen der Entstehung von Konflikten und entsprechender Aufnahme diplomatischer Bemühungen gleich zu Beginn von Krisen wurde deutlich gemacht. Aber es kam auch die Veränderung der Gesellschaft in Deutschland mit einer Zunahme von immer mehr Aggressivität und Kommunikationsunfähigkeit zur Sprache, der dringend etwas entgegnet werden muss.

Da Frieden und Gerechtigkeit zusammengehören, war auch der Weltladen mit einem Stand fair gehandelter Artikel wieder dabei.

Mit einer Friedenskerze als Geschenk bedankte sich Annette Krewett, von der Ökumenischen Basisinitiative für Frieden Iserlohn, nach einem kräftigen Applaus der Teilnehmenden, bei dem Referenten, der zu manch einer neuen Erkenntnis an diesem Abend beigetragen hat.

Redaktioneller Hinweis

Der Artikel wurde am 9.11. in der Zeitschrift „Unsere Kirche“ Nr. 46/2025, S. 6-7 erstveröffentlicht. Wir bedanken uns für die Möglichkeit, den Artikel auf unserem Online-Medium publizieren zu können.

Zum Autor

Bernhard Laß ist ein emeritierter Pfarrer aus Iserlohn, der sich neben seiner kirchlichen Tätigkeit durch Fotografie und gesellschaftskritische Ausstellungen auszeichnet. Er war zuletzt Dozent am Pädagogischen Institut der Evangelischen Kirche von Westfalen in Schwerte-Villigst, wo er sich auf dem Gebiet der Friedensbildung engagierte. So war er verantwortlich für eine Fortbildung zu Referent*innen für Friedensbildung an Schulen, an der 2014/15 der GA-Redakteur Stephan Brües teilgenommen hat.

Laß hat sich über viele Jahre hinweg für soziale und ökologische Themen eingesetzt, darunter die Arbeit im Dritte-Welt-Laden in Iserlohn, die Unterstützung des „Eine-Welt-Kiosk“ in seinem Stadtteil Roden und die Förderung von Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung.

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