von Silvia Reckermann
Fußballfans sind wir eher weniger, aber EM und WM – da sind auch wir von der Aktionsgruppe Gleichstellung Bayern, AGGB, gern dabei! Und die internationale Fankultur mal aus der Nähe zu erleben, das ist wirklich mehr als spannend. Die Kampagne #RoteKartefürFreier des Bundesverbandes Nordisches Modell bringt uns mit Fans aus aller Welt ins Gespräch. Wir starten am 12.6. beim großen Fanfest auf der Theresienwiese in München. Heute sind wir zu fünft, eine Aktivistin von der Aktionsgruppe Gleichstellung Bayern, AGGB, zwei Ehrenamtliche von der Hilfsorganisation Perlentor (Ausstiegshilfe für Frauen in der Prostitution) und Ursula Männle, Bayerische Staatsministerin a.D. und gefühlt schon immer eine feministische Vorkämpferin innerhalb der CSU. Wir sind zwar strikt überparteilich, aber sehr erfolgreich dabei, immer mehr Unterstützer*innen aus allen politischen Lagern zu gewinnen. Über die spontane Bereitschaft von Frau Professor Männle haben wir uns daher besonders gefreut.
Alle strömen zu dem Großevent, dem Fankonzert. Alle haben es eilig, allzu groß ist das Interesse an unseren Karten hier erstmal nicht, aber wir finden hier und da doch noch Leute, die sich mit unserer Karte fotografieren lassen wollen. So ist eine ganze Gruppe von Frauen auf einem Junggesellinnenabschied gern bereit für ein Gruppenfoto. Denn wer wollte schon gern einen Freier als Mann?
Die Freier sichtbar machen – die Rote-Karte-Kampagne
Unsere Kampagne zielt nicht darauf ab, Freier direkt anzusprechen, um sie von Ihrem Tun abzuhalten. Das wäre naiv. Unser Ziel ist die Politik. Sie muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass es weniger sexuelle Ausbeutung von Frauen in der Prostitution gibt. Da hilft es, zu erkennen, dass diese Forderung in der Gesellschaft durchaus populär ist.
„Don‘t take it personally“, manche Männer gucken uns verdutzt an und zeigen auf ihren Ehering. Aber den allermeisten ist sofort klar, dass wir nicht sie ansprechen, sondern die Politik. Lustig sind auch Missverständnisse, wenn ein Mann aus dem Kosovo und ein Kroate meinen: “Okay, das ist gegen die Serben, da sind wir dabei.“ Später erfahren wir: „Frejer“ ist ein serbisches Wort und bedeutet, ein besonders gutaussehender Typ Mann. Tatsächlich kennen nicht alle das Wort „Freier“. Einem perfekt deutschsprechenden Kneipenwirt mussten wir es erklären. Auch jungen Deutschen ist der Begriff nicht immer bekannt. Das zeigt zwar eine sympathische Ferne zum Milieu, aber auch, wie wenig über diese Männer gesprochen wird. Sie führen ein Schattendasein, aber eines mit fatalen Auswirkungen, wie in dem Blog „Die unsichtbaren Männer“ von Elly Arrow zu sehen ist.
Unsere Aufgabe ist es, den Fokus auf diese Männer zu richten, die den Menschenhandel am Laufen halten – und auf die Politiker*innen, die die Lieferketten des Menschenhandels schmieren. Sie sind leicht zu erkennen: An der Verwendung des zynischen Euphemismus „Sexarbeit“, der als Selbstbezeichnung in Ordnung ist, weil es in der Prostitution auch Freiwilligkeit gibt. Aber der Politik erlaubt der Begriff, die Opfer des Menschenhandels unsichtbar zu machen und sich aus der Verantwortung zu stehlen. Auch dazu haben wir schon eine vielbeachtete Sendung in Radio Lora gemacht.
Schätzungen gehen davon aus, dass mindestens 80 % der Prostituierten in Deutschland Opfer von Menschenhandel sind. Gerade während Großereignissen kommt es zu einem Anstieg der Nachfrage nach Prostitution und damit auch zu einem Anstieg des Menschenhandels. In Deutschland geschieht dies seit dem Prostitutionsgesetz von 2002 hinter der Fassade eines legalen Geschäfts. Dass auch Legalität nicht zu mehr Transparenz und einem besseren Schutz von Prostituierten führt, zeigt der am 24.06.24 vorgelegte Bericht der Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für Gewalt gegen Frauen und Mädchen. In ihrem Bericht, in den Forschungsergebnisse aus aller Welt eingeflossen sind, betont Reem Alsalem, dass Prostitution ein System der Gewalt, der Ausbeutung und des Missbrauchs mit schweren Menschenrechtsverletzungen darstellt. Prostitution könne nicht als Arbeit beschrieben werden. Darüber hinaus normalisiere das vermeintliche Recht von Männern, sexuelle Dienstleistungen zu kaufen, systemische Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Der Bericht ruft die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen dazu auf, im Rahmen der nationalen Gesetzgebungen Prostitution zu bekämpfen. Auch wir setzten uns schon lange und jetzt mit dieser Kampagne für die Einführung des Nordischen Modells in Deutschland ein, das es Männern verbietet, Sex zu kaufen.
Die Fans ansprechen: Deutschland das Bordell Europas?
„Of course, this is against sexual perpetrators! “ Das hören wir am nächsten Abend im Biergarten am Chinesischen Turm im Münchener Englischen Garten. Die EM hat noch nicht begonnen, aber die Fans aus Schottland sind schon da. Wuchtige Männer und Frauen mittleren Alters, die unser Bier zu schätzen wissen, gemütlich und ausgelassen, gesellig in größeren Gruppen zusammensitzen und uns ausgesprochen freundlich empfangen. Fast alle sind bereit sich fotografieren zu lassen und wir brauchen gar nicht viel zu erklären, denn das Thema ist in Schottland offenbar präsent. Die Regierung hat sich dort ganz klar positioniert und sogar auf ihrer Website steht: Prostitution ist Gewalt gegen Frauen. Mehr Bekenntnis zu Europa geht nicht. Erst am 14.09.23 hat das Europaparlament mit einer erneuten Resolution seine Position von 2014 bekräftigt: Prostitution ist Gewalt und gegen die Menschenwürde. Nur AfD, FDP und Grüne haben dagegen gestimmt. Die deutschen Grünen, wohlgemerkt, nicht alle Grünen, zum Beispiel nicht die schwedischen, die ihre Gesetzgebung wohl am besten beurteilen können.
In großen Strömen ergießen sich die Menschenmassen aus der U-Bahn heraus. Bis zum Stadion sind es noch 15 Minuten Fußweg. Hier die Karten zu verteilen, macht wenig Sinn, weil alle es eilig haben, aber vor dem Stadion vermuten wir Kontrollen und Verbote. Tatsächlich können wir aber oben, vor dem Eingang völlig unbehelligt unsere Karten verteilen und viele schöne Fotos machen. Adele ist aus Leipzig angereist. Sie ist Aktivistin und Expertin in der Ansprache von Fans, spricht sogar den wild aussehenden Schotten mit dem nackten Oberkörper und dem Ganzkörper-Tattoo an. Auch er reagiert sehr freundlich. Allgemein sind die ausländischen Gäste aufgeschlossener. Sie interessieren sich dafür, was in Deutschland so los ist. Dass unser Land als das Bordell Europas gilt, wissen nur wenige Fans aus Schottland, aber fast alle aus Frankreich und Osteuropa. In Frankreich gilt ja auch ein Verbot für Bordelle und Freier, daher boomt an der Grenze der Sextourismus nach Deutschland. Das Saarland ist ein Hotspot der Branche. Gut findet das keiner.
Hier oben vor dem Eingang zum Stadion hat sich eine spezielle Fan-Szene gebildet. Nicht alle wollen wirklich ins Stadion, nicht jeder kann sich den Eintritt leisten. Aber alle haben Spaß daran, zu sehen und gesehen zu werden. Fotografiert zu werden, ist natürlich noch viel besser. Auch deshalb ist die Bereitschaft, mit unseren Karten zu posieren, jetzt plötzlich sehr groß. Auf der Rückseite unserer Karten wird erklärt, worum es geht. Die sehr professionell gestaltete Kampagne ist mehrsprachig. Und alle, die gern Fotos mit uns machen, klären wir zunächst darüber auf, auf was sie sich hier einlassen, dass wir die Fotos natürlich posten und veröffentlichen werden.
Auffällig ist, dass die angesprochenen Fans aus Japan sich nicht beteiligen und nur wenig Verständnis für die Aktion zeigen: „Sex mit Prostituierten? Na und? Wo ist denn das Problem?“ Manchmal machen Männer auch Witze, feixen, fragen, ob es sich bei der Karte etwa um einen Gutschein für den ‚Puff‘ handele. Das nehmen wir mit Humor. Wir sind ja nicht hier, um Leuten die Stimmung zu verderben. Im Gegenteil, viele freuen sich über unseren Auftritt. Ein Afrikaner aus Togo, der eine Ausbildung zum Erzieher macht, sagt, für seine Arbeit sei das Thema sehr wichtig. In Togo hatten er und sein Kumpel Germanistik studiert, sind dann nach Deutschland gekommen, und jetzt beide in der Berufsausbildung. „Gefällt euch das?“, möchte ich wissen. In unseren Bereichen sind die Berufsaussichten gut, es fehlen Leute, also ist es okay, meinten sie.
Die Auswirkungen der deutschen Prostitutionspolitik in der Ukraine und Rumänien
Ein besonders schönes Foto mache ich von drei Jungs, alles keine Deutschen, aber sie haben eine große Deutschland Fahne dabei – und eine schottische. Wir sind zu sechst heute, alles Leute von unserer Gruppe, alle die ganze Zeit im Gespräch und allen hat es viel Spaß gemacht! Erschöpft, aber glücklich nehmen wir die jetzt ganz leere U-Bahn zurück. Aber unsere Aktivistin Nati, die am Stadion schon ununterbrochen im Gespräch war, hat noch nicht genug. Sie verteilt Karten in der U-Bahn und wird glatt von der Security rausgeschmissen. Neben mir sitzt ein Mann mit einem Ukraine-Shirt, drum gebe ich ihm auch noch eine Karte. Er wirkt müde, aber durch Zufall kommen wir doch noch ins Gespräch. Sein Begleiter will wissen, was ich über den Ukraine Krieg denke, über Selenskyj. Ich drücke mein Bedauern aus und meine Bewunderung und so entwickelt sich doch noch ein Gespräch. Beide Männer sind aus Georgien angereist. Ihnen ist bewusst, dass zunehmend auch ukrainische Frauen Menschenhändlern zum Opfer fallen, dass Männer an der Front für die Werte Europas kämpfen, während mache ihrer Frauen in diesem Europa sexuell ausgebeutet werden. Die OSZE hat immer wieder nachdrücklich davor gewarnt und fordert schon seit Jahren eine Beschränkung der Nachfrage nach Prostitution durch staatliche Gesetzgebung.
Am Sonntagabend ist Biergarten angesagt. Zunächst also zum Augustiner, nahe des Hauptbahnhofs, schnell durch und Karten auf die Tische legen. Der Augustiner hat viele festangestellte, langjährige Mitarbeiter*innen mit einem entsprechend selbstbewussten, aber höflichen Auftreten. Schnell wird uns erklärt, dass wir für so eine Aktion eine Erlaubnis brauchen, und auch, wo wir diese bekommen können. Hier ist also Schluss für heute, beim Löwenbräu sind wir auch nicht erfolgreicher. Aber in der Fußgängerzone werden wir noch jede Menge Karten los. Und am Marienplatz gelingen uns schöne Fotos mit Fans aus Rumänien. Dieses Land ist wie kein anderes von der verfehlten Prostitutionspolitik Deutschlands betroffen. Wie ein Brandbeschleuniger wirkt unsere Politik auf die Entwicklung des Prostitutionsmarktes in Osteuropa und auf die damit verbundenen Menschenhandelsströme. Jeder weiß das in Rumänien. Aber offene Kritik an Deutschland? Wir wissen nicht, über was der rumänische Ministerpräsident bei seinem Besuch in Deutschland mit deutschen und Bayerischen Politiker*innen gesprochen hat. Es wird Zeit, Prostitution und Menschenhandel aus der Tabuzone herauszuholen und genauso zu behandeln, wie andere Menschenrechtsverletzungen!
Reformen nach dem Nordischen Modell würden bedeuten, dass Deutschland sich von seinem Laisser-Faire-Liberalismus verabschieden müsste. Zuhälterei würde verboten, Bordelle geschlossen, JEDE Ausbeutung von Frauen in der Prostitution wäre verboten. Sexkauf wäre verboten und würde geächtet. An die Gesellschaft würde ein klares Signal gesendet, dass es nicht in Ordnung ist, wenn ein Geschlecht das andere kaufen kann – weil Sexkauf jede Bemühung um Gleichstellung ad absurdum führt und schwere Menschenrechtsverletzungen verursacht. In Bildung und Erziehung würde diese Position ebenfalls wirksam werden. Einzig den Frauen selbst wäre es erlaubt, sich zu prostituieren. Unter erschwerten Geschäftsbedingungen zwar, aber ohne Menschenhandel und Zwang. Völlig abschaffen kann man Prostitution so zwar nicht, aber auf ein Minimum reduzieren. In Schweden gibt es seit der Einführung des Modells schätzungsweise 90% weniger Prostitution! Und – das ist das Entscheidende: dem Menschenhandel das Wasser abgegraben.
Hinschauen bei Rassismus – wegschauen bei Sexismus? Neue Compliance-Regelungen müssen her!
Am Montagabend gehts in die evangelische Stadtakademie zu einer Podiumsdiskussion über Rassismus im Fußball. Der Vertreter des FC Bayern erklärt, welch hohe gesellschaftspolitische Relevanz der Fußball hat. Wie wichtig er für die Sozialisation der Jugend sei. Und wie konsequent der FC Bayern gegen jede Form von Rassismus vorgehe, diesen Auftrag sogar explizit in seiner Satzung festgehalten habe. Ich frage ihn, wie es denn mit Sexismus sei und mit dem Verhalten nach dem Spiel, ob denn auch die sexuelle Ausbeutung in der Prostitution Thema sei? Nein, das sei kein Thema für den FC-Bayern, nur natürlich, wenn es Minderjährige beträfe, die dem Verein anvertraut würden.
Das war eine erfrischend klare Auskunft! Jetzt ist es natürlich schwierig, bei bestehender Gesetzeslage das private Verhalten von Fußballern, Funktionären und anderen Mitgliedern des FC Bayern sanktionieren zu wollen. Aber tagsüber Antirassismus zu predigen, um dann die Augen vor dem zu verschließen, was im Verborgenen passiert, nämlich rassistische und sexistische sexueller Ausbeutung – in den meisten Fällen – von Menschenhandelsopfern, das passt irgendwie nicht wirklich zusammen. Zumal Gewalt gegen Frauen, von Top-Spielern ausgeübt, inzwischen auch nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden kann. Der Spiegel und die SZ widmeten Boateng und dem Selbstmord seiner Partnerin ganze Serien.
Wo Frauen als Ware gehandelt werden, ist häusliche Gewalt Alltag. Denn Gewalt lässt sich nicht outsourcen. Wo Gewalt herrscht, greift sie auf alle Bereiche über. Wir erwarten, dass der in der Satzung des FC-Bayern verankerte Verhaltenscodex, der ja durchaus auch den Privatbereich umfasst, auch das Thema sexuelle Ausbeutung aufgreift. Sonst entsteht leicht der Eindruck, dass es gar nicht so sehr um gesellschaftspolitische Wirksamkeit geht, sondern einfach darum, dass Spieler, die Millionen gekostet haben, nicht durch rassistische Aktionen, wie Bananenwürfe und Affenlaute, demotiviert werden sollen. Und dass die Marke nicht beschädigt werden darf.
Wir erwarten daher nicht nur vom FC Bayern, sondern von allen größeren Unternehmen, dass sie Prostitution in ihre Compliance Regelungen aufnehmen und ihren Mitarbeitern untersagen, Prostituierte aufzusuchen. Denn Prostitution ist, abgesehen von den menschenrechtlichen Aspekten, immer noch ein Mittel für Männerbündelei und Korruption. Sie wird teilweise immer noch mit Spesen-Abrechnungen für Bewirtung von der Steuer abgesetzt. Wir bezahlen also alle mit. Und die Freiheit der Meinungsäußerung ist auch gefährdet. Warum gibt es so wenig sachliche Berichterstattung, warum kaum investigativen Journalismus in einem so wichtigen und zahlenmäßig relevanten Bereich wie dem internationalen Menschenhandel? Warum so viel „Hofberichterstattung“ aus den Bordellen, selbst in der seriösen SZ? Weil jeder Freier aus der Medienbranche erpressbar ist.
Die Kampagne in Presse und Medien bringen
Auf Radio Lora läuft an diesem Montag unsere Sendung über die Sperrbezirksregelung in München. Ich frage den Moderator, Kevin, wie er eigentlich über das Thema denkt: „Für mich persönlich kommt das nicht in Frage. Und ich bin auch sehr froh drum, dass es in München Sperrbezirke gibt. Ich kenne das von Aufenthalten in Berlin oder Hamburg: Wenn man da durch die Barviertel läuft und direkt angesprochen wird. In München fühle ich mich deutlich wohler. Abgesehen davon, wenn ich mir meine Zukunft vorstelle, Familie, Kinder usw., dann möchte ich nicht, dass sie in einer vergleichbaren Umgebung aufwachsen. Und ich bin ansonsten auch davon überzeugt, dass Prostitution ein Akt der Gewalt ist, der traumatische Auswirkungen auf die Frauen hat und auf die Täter. Die Gewalt wirkt sich in beide Richtungen aus. Traumata und Gewalt werden von den Betroffenen weiter in die Gesellschaft getragen und prägen unsere gesellschaftliche Realität und insbesondere unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Deswegen lehne ich Prostitution grundsätzlich ab.“
Besser hätte keine Feministin es formulieren können. Auffällig ist, dass besonders junge Männer oft sehr positiv auf das Thema reagieren. Frauen halten sich lieber zurück, empfinden es eher als peinlich, wollen sich vielleicht auch nicht gern zu umstrittenen Themen äußern. Männer haben eher mal von anderen Männern erfahren, wie es beim Sexkauf zugeht, vielleicht sogar aus eigener Erfahrung. Zu unserer Überraschung sprach uns sogar ein Personenschützer an und dankte uns für unsere Arbeit. Er konnte im Detail schildern, wie jungen Frauen gleich nach Grenzübertritt die Pässe weggenommen werden, wie sie dann in den Bordellen verschwinden. „Keiner kann mir erzählen, dass ein normaler Mensch so etwas freiwillig macht,“ meinte er.
In der Presse kursiert jetzt die Frage, ob es wegen der EM mehr Prostitution gibt oder nicht. Komisch, dass immer alle die gleiche Frage stellen, statt die Frage mal einer Relevanzprüfung zu unterziehen. Können die Medienvertreter*innen nicht auch mal eigene Fragen formulieren? Ich würde mal fragen, warum es in Deutschland überhaupt so viel Prostitution gibt. Ob das eigentlich ein Naturgesetz ist, ob es hier so viele „Notgeile“ gibt, oder ob es auch etwas mit der Politik zu tun haben könnte …
Eine Dame vom Bayerischen Rundfunk ruft mich an, weil sie von unserer Kampagne erfahren hat. Diese Woche sei ein Filmteam da, die wollten etwas dazu machen. Kurz darauf ruft der Redakteur selbst an, er wirkt wenig begeistert. Als Fußballfan schockiert es ihn, dass wir harmlose Fans auf so ein heikles Thema ansprechen. Wir verabreden uns trotzdem für ein Treffen auf einer Fußgängerbrücke im Olympiastadion, die zur Fanzone führt. Es ist mittags, ich bin allein da, normalerweise sind wir immer in der Gruppe. Alle haben es eilig, einen Platz in der Fan-Zone zu ergattern, alle sind noch nüchtern. Ob es mir unter so widrigen Bedingungen überhaupt gelingt, Fans für unsere Kampagne zu interessieren? Es wäre ein Risiko für die ganze bundesweite Kampagne, wenn hier ein Scheitern dokumentiert würde, und ich wäre schuld.
Aber ich habe inzwischen Übung und vor allem ein Gefühl für die Leute, spreche besonders die Jungs mit den größten Fahnen an. Das klappt gut. Auch Deutsche reagieren jetzt recht positiv. Der Redakteur ist überrascht, aber noch skeptisch, fragt nochmal nach: „Und jetzt sagt doch mal: Wie findet ihr diese Kampagne?“ „Eigentlich doof und überflüssig! Wir wollten nur nett zu der Tante sein.“ War es das, was er hören wollte? Fehlanzeige, das hat keiner gesagt. Die Jungs haben keine große Begeisterung geäußert, aber sie finden so eine Ansprache zu einem brisanten Thema ganz normal, wundern sich eher über die Nachfrage. Der Beitrag wird schön und gelingt ganz in unserem Sinne. Er wurde am 24. Juni in der BR Abendschau Süd ausgestrahlt und wird von FOCUS Online übernommen.
Junge Leute ansprechen
In der gleichen Woche hat unsere Partnerorganisation Kofra einen Stand am Sendlinger Tor angemeldet. Kofra ist ein autonomes Selbsthilfeprojekt, in dem sich Frauen zu unterschiedlichen Themen ihrer Arbeits- und Lebenssituation zusammenschließen können, z.B. Frauen gegen sexuelle Gewalt, Abbau von Prostitution, Feminismus oder Frauen gegen Pornofizierung. Als AGGB scheuen wir den Aufwand, den so eine Anmeldung bedeutet, zumal dies auch mit zusätzlichen Kosten verbunden ist. Wir haben schon für das ganze Material bezahlt, zehntausende von Karten, und machen lieber spontane Aktionen ohne Tisch und Roll up. Hier ist alles schön ordentlich, sogar Stühle stehen bereit für die geselligen Aktivist*innen-Runde. Freitagabend wollen viele schnell noch etwas einkaufen. Das macht es etwas schwieriger. Unsere Nati ist trotzdem unermüdlich im Gespräch. Sie schafft es die Menschen durch ihr sympathisches Temperament zu fesseln, so, wie früher schon in ihrer Heimat in Chile.
Eine Gruppe Jugendlicher stürmt laut und neugierig auf unseren Stand zu. Der Anführer trägt ein Shirt mit der Aufschrift Pussy: Nutri Score A, alle sind auf dem Weg zur Isar, wo sie chillen wollen, die Weinflaschen haben sie schon dabei. Aber sie nehmen sich die Zeit und es entsteht ein lebendiges und nachdenkliches Gespräch. Die Schüler*innen der 11. Klasse wollen das Thema sogar mit in den Unterricht nehmen und einen Stapel Karten an der Isar verteilen. Wir machen noch zwei schöne Fotos vor dem großen Fußball, den uns die Stadt München praktischerweise als Fotomotiv vor das Sendlinger Tor gestellt hat. Jetzt ist Halbzeit unserer Aktion. Wir hatten viele gute Gespräche mit Menschen aus aller Welt, wir haben eigentlich nur gute Erfahrungen gemacht, obwohl manche von uns anfangs ein bisschen Angst vor großen Männergruppen und Fußballfans hatten. Was wir alle erlebt haben, ist vor allem eins: Aktivismus macht glücklich. Besonders, wenn man Erfolg damit hat. Wir haben mit dem Thema offene Türen eingerannt. Fast alle, mit denen wir gesprochen haben, waren auf unserer Seite – und das unabhängig von Alter, Geschlecht und politischer Einstellung. Es ist nur die Politik, die sich jetzt endlich bewegen muss!
Silvia Reckermann ist Vorstand im Nord Süd Forum München, Mitgründerin des Bündnis Nordischen Modell (jetzt Bundesverband) und Gründerin der Aktionsgruppe Gleichstellung Bayern, AGGB.