Von Jamila Raqib (21. November 2025)
Die Demokratie wird in unseren Gemeinden auf die Probe gestellt. Städte von Charlotte bis Memphis sehen sich mit eskalierenden Bedrohungen durch den Einsatz von Militär und Razzien gegen Einwanderer*innen konfrontiert. Staaten wie Maryland und Vermont werden Bundesmittel für die Katastrophenhilfe und -bewältigung verweigert. Es gibt jedoch auch viele Anzeichen dafür, dass sich Widerstand formiert. Bundesgerichte sind zu einem wichtigen Instrument zum Schutz vor Übergriffen des Bundes geworden, und die Amerikaner*innen werden zunehmend aktiv – und ja, radikalisiert, im besten Sinne des Wortes. Sie erkennen, dass „Business as usual“ keine Option mehr ist und dass sie eine Rolle beim Schutz unserer Gemeinden und politischen Systeme zu spielen haben.
Dies ist eine Zeit großer Dringlichkeit, und die gegen uns eingesetzten Strategien zielen darauf ab, uns zu überwältigen, Angst und Verwirrung zu schüren und uns hilflos zu machen. Autoritäre Kräfte stellen die unterdrückerische Realität gerne als etwas dar, das nicht rückgängig gemacht werden kann, und untergraben so den Willen zum Widerstand.
In Amerika ist der Widerstand jedoch weit verbreitet und wächst. Allerdings besteht auch die Notwendigkeit, schnell zu handeln. Jüngste Untersuchungen aus Harvard zeigen, dass die Proteste in diesem Jahr „einen größeren Teil der Vereinigten Staaten erreicht haben als jemals zuvor“. Jetzt sollte das Ziel darin bestehen, Taktiken und Strategien anzuwenden, die unsere Wirksamkeit kurzfristig erhöhen und gleichzeitig sicherstellen, dass unsere Erfolge von Dauer sind.
Was derzeit in Amerika geschieht, folgt genau einem autoritären Drehbuch, das in der Geschichte und weltweit heute weit verbreitet ist. Aber auch wir haben ein Drehbuch – eines, das Rahmenbedingungen benennt und Lehren von Menschen bietet, die sich erfolgreich gegen Invasionen, Besetzungen und Autoritarismus gewehrt haben.
Diese vier Schritte ermöglichen es uns, ganzheitlich über gewaltfreien Widerstand nachzudenken – ein mächtiges Instrument im Kampf für Demokratie und Menschenrechte – und sicherzustellen, dass alle Teile des Puzzles zu einem Ganzen werden.
1. Die Situation einschätzen, um die Konfliktlinien zu verstehen
Bewegungen schreiten oft zur Tat, ohne sich ein klares Bild von dem Terrain zu machen, auf dem sie sich bewegen. Wir müssen dem Impuls widerstehen, auf jede Empörung mit sofortiger Mobilisierung zu reagieren. Stattdessen sollten wir innehalten, um die Situation, unsere Ziele und die Fähigkeiten der Gruppen, gegen die wir mobilisieren, sowie die unserer eigenen Bewegungen einzuschätzen.
Diese Art der strategischen Bewertung ist eine notwendige Voraussetzung für Aktionen. Wir müssen wissen, welcher Schaden angerichtet wird oder geplant ist und wer dafür verantwortlich ist. Und wir müssen wissen, welche Systeme und Institutionen diesen Schaden durch ihre Zusammenarbeit und ihren Gehorsam ermöglichen und welche für Überzeugungsarbeit oder Druck anfällig sind. Dazu gehört auch, dass wir die Zahlen der Aktiven, deren Fähigkeiten und Ressourcen sowie den Ausbildungs- und Disziplinierungsgrad unserer Bewegung einschätzen.
Die Analyse, die vor der Mobilisierung der Menschen durchgeführt wird, war in vergangenen Bewegungen von entscheidender Bedeutung. Sie hat ungenutzte Kräfte freigesetzt und es Gruppen ermöglicht, ihre Aktionen so auszurichten, dass der Erfolg wahrscheinlicher wurde. So stützte sich beispielsweise die Otpor-Bewegung in Serbien, die im Oktober 2000 erfolgreich die Diktatur von Slobodan Milosevic stürzte, auf strategische Einschätzungen, um ihre Aktionen vorzubereiten. Eines ihrer Hauptziele war es, die Polizei davon zu überzeugen, sich dem Widerstand anzuschließen, was ursprünglich für unmöglich gehalten wurde.
Die Bewegung erkannte jedoch, dass es sich angesichts ihrer Nähe und ihres Einflusses als wirksam erweisen könnte, die Familienangehörigen von Polizeibeamt*innen anzusprechen und zu rekrutieren. Als es schließlich zum Showdown kam und Hunderttausende Demonstrant*innen auf die Straßen Belgrads strömten, weigerten sich die meisten Polizeibeamt*innen einfach, den Befehl zum Schießen auf die Menge auszuführen.
An erster Stelle steht also eine solche klare, strategische Einschätzung. Darauf bauen wir auf, und zwar nicht nur auf zahlenmäßige Stärke, sondern auch auf Fähigkeiten, Strategie und Infrastruktur.
2. Die Kraft einer Bewegung aufbauen, um wirksame Aktionen durchzuführen
Sobald wir die Stärken und Schwächen der Gruppen, gegen die wir mobilisieren, sowie die unserer Bewegung verstanden haben, müssen wir Kraft aufbauen.
Das bedeutet, eine Strategie zu entwickeln, um Menschen außerhalb der üblichen Verdächtigen zu motivieren und auszubilden, und sicherzustellen, dass sie gewaltfreie Disziplin haben, damit unsere Reaktion auf [die zu erwartende] Unterdrückung strategisch und nicht reaktiv ist und wir nicht zu Gewalt und anderem kontraproduktiven Verhalten provoziert werden. Es bedeutet auch, [unabhängige] parallele Institutionen aufzubauen, damit wir unsere wesentlichen Bedürfnisse auch dann erfüllen können, wenn bestehende Systeme schwächer werden, zusammenbrechen oder zur Unterdrückung eingesetzt werden.
Die Nachbarschaftskomitees im Sudan, die im Rahmen des Widerstands von 2019 entstanden und zum Sturz des Regimes von Omar al-Bashir beitrugen, waren dezentrale Basisstrukturen, die Proteste koordinierten, Informationen verbreiteten und gegenseitige Hilfe organisierten – und so [eigenständige] parallele Machtzentren schufen, die auf lokaler Legitimität und Vertrauen beruhten.
Und während der Anti-Apartheid-Bewegung in Südafrika wurden Straßenkomitees und Volksgerichte eingerichtet. Sie spielten eine entscheidende Rolle sowohl beim Widerstand gegen die Apartheidpolitik als auch beim Aufbau neuer Formen der demokratischen Teilhabe, wodurch sie die Autorität des Regimes wirksam untergruben und durch lokale Selbstverwaltung ersetzten.
In den USA könnten Glaubensgemeinschaften, Gartenclubs und Mietervereine in ähnlicher Weise als Machtzentren und Organisationsknotenpunkte genutzt werden. Mit Hilfe einer dezentralen Ausbildungsinfrastruktur könnte jede Gruppe in Amerika, egal wo, Aktionen planen und durchführen, selbst wenn keine zentrale Führung entsteht oder diese gestört wird.
Wenn diese alternativen Kapazitäten aufgebaut und in Widerstandskämpfe und Bewegungsarbeit integriert werden, werden sie zu wirkungsvollen Werkzeugen in unserem gewaltfreien Arsenal und können den nächsten Schritt erleichtern: die Durchführung wirkungsvoller Aktionen.
3. Handeln, um Machtverhältnisse zu verschieben.
Allzu oft sind Demonstrationen und Kundgebungen unsere Standardreaktion. Ja, diese können symbolisch sehr wirkungsvoll sein, aber wenn sie nicht Teil einer umfassenderen Strategie sind, die die Machtverhältnisse verschieben – durch Abbruch der Zusammenarbeit, Ausübung wirtschaftlichen Drucks und Störung wichtiger Funktionen des Regimes –, bewirken sie allein selten Veränderungen. Aktionen dürfen nicht nur Empörung zum Ausdruck bringen, sondern müssen dazu beitragen, konkrete Verschiebungen der Machtverhältnisse herbeizuführen.
Es gibt einen Grund, warum die Liste der 198 Methoden gewaltfreien Handelns, die von Gene Sharp in drei strategische Bereiche unterteilt ist: Protest, Nichtkooperation und Intervention. Die wirksamsten Bewegungen wenden diese Methoden bewusst nacheinander an. Deshalb sind das Timing, die Abfolge und die Klarheit der Ziele entscheidend.
In Chile umfasste der zivile Widerstand gegen das Regime von Augusto Pinochet Boykotte von Studierenden, Streiks und Untergrundmedien, die alle zusammenwirkten.
In Israel entwickelten sich kürzlich aus den Straßenprotesten der Antikriegsdemonstrant*innen, an denen auch Reservisten teilnahmen, ein Generalstreik. Dieser hatte das Potenzial, erheblichen wirtschaftlichen und politischen Druck auszuüben.
Solche wirksamen Aktionen erzeugen eine Dynamik, indem sie einen immer größeren Querschnitt der Gesellschaft einbeziehen und die Kosten für das Regime oder die Institution erhöhen. In den USA könnten ähnliche Maßnahmen einen koordinierten Steuerboykott, anhaltende Streiks von Studierenden, Mietstreiks oder Arbeitsniederlegungen umfassen – allesamt verbunden mit konkreten Forderungen, die zeitlich abgestimmt und skaliert sind [Siehe zu Streiks auch den Artikel „Wie ein Generalstreik in den USA organisiert werden könnte“, d. Red.]
Jede dieser Maßnahmen muss verteidigt werden, was der letzte Schritt ist.
4. Unsere Erfolge verteidigen, um langfristige Widerstandsfähigkeit zu gewährleisten.
Jede Bewegung, die eine politische Veränderung, eine Kampagne oder einen Kampf gewinnt, muss sich fragen, wie sie verteidigt werden kann. Ohne die Fähigkeit zur Verteidigung kann jeder Gewinn rückgängig gemacht werden.
Hier ist eine zivile oder Soziale Verteidigung unerlässlich. Dazu gehört, die Gesellschaft auf einen dezentralisierten gewaltfreien Widerstand vorzubereiten, wenn unsere Gemeinschaften, Institutionen und politischen Systeme angegriffen werden. Das bedeutet, die Kraft aufzubauen, nicht nur einmal zu mobilisieren, sondern die Mobilisierung aufrechtzuerhalten.
Hinweis der Redaktion
Dies ist die Übersetzung des Originaltextes auf https://wagingnonviolence.org/2025/11/the-playbook-of-every-successful-nonviolent-struggle/
Zur Autorin
Jamila Raqib ist die Exekutivdirektorin des Albert Einstein Instituts, eine Institution, deren Ziel es ist, weltweit Studien und praktische gewaltfreie Aktionen voranzubringen.