Was, wenn die Ukraine nicht zurückgeschossen hätte?

Im Kampf gegen die russische Invasion hat die Ukraine großflächige Zerstörungen, Vertreibungen und zigtausende Tote zu beklagen. Gab es vielleicht andere, gewaltfreie Wege, die nicht beschritten wurden, und wäre ein solcher Widerstand besser verlaufen als die militärische Verteidigung?
Das Titelbild zeigt viele Protestierende auf dem Maidan-Platz in Kiew 2013
Proteste auf dem Maidan-Platz, Fotograf: Mstyslav Chernov, CC2.0By_wikipedia

 von Alexandre Christoyannopoulos

Pazifist*innen und Befürworter*innen der Gewaltfreiheit werden oft als „tragisch naiv“ abgetan. Der russischen Invasion in der Ukraine beispielsweise, so das Argument, könne nur auf dem Schlachtfeld begegnet werden. Daher die koordinierten Bemühungen so vieler Menschen im Westen und in der Ukraine mehr Waffen zu schicken, mehr Kämpfende zu rekrutieren sowie die Militärausgaben und die militärische Einsatzbereitschaft zu erhöhen.

Könnte es vielleicht sein, dass die überwältigende Mehrheit „tragisch naiv“ war, indem sie unkritisch die Annahme übernahm, einer russischen Invasion könnte nur mit Waffen begegnet werden? Was wäre passiert, wenn die Ukrainer*innen sich nicht gewehrt, nein, besser: wenn sie sich nicht gewaltsam gewehrt hätten? Was wäre passiert, wenn sie sich gewaltfrei gewehrt hätten?

Die Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands

Ich bin mir natürlich bewusst, dass dieser Gedanke gegen einige tief verwurzelte Annahmen verstößt: über die menschliche Natur, über die Wirksamkeit, die Legitimität und die Kontrollierbarkeit von Gewalt und darüber, wie Solidarität mit den Opfern von Gewalt zum Ausdruck gebracht werden sollte.

Aber sind wir wirklich sicher, dass diese Annahmen richtig sind?

Erstens gibt es immer mehr Belege für den Erfolg gewaltfreier Methoden des Widerstands, und zwar nicht nur in Demokratien, sondern auch in autoritären Regimen.

Von Gandhi bis zum Sturz von Marcos auf den Philippinen, von der Bürgerrechtsbewegung in den USA bis zum Zusammenbruch des Staatskommunismus oder auch dem Euromaidan in der Ukraine – gewaltfreier Widerstand hat nachweislich das Potenzial, wirksam zu sein. Das neue „Journal of Pacifism and Nonviolence“ (Fachzeitschrift für Pazifismus und Gewaltfreiheit) beabsichtigt, solche Beispiele genauer zu untersuchen und zu reflektieren).

Wie Erica Chenoweth und Maria J. Stephan in ihrem preisgekrönten Buch „Why Civil Resistance Works“  anhand von über 300 Fällen von gewaltsamem und gewaltfreiem Widerstand seit 1900 gezeigt haben, ist der Erfolg zwar nicht garantiert, doch scheint gewaltfreier Widerstand insgesamt mehr als doppelt so häufig zum Erfolg zu führen wie gewaltsamer Widerstand. Sie zeigen auch, dass gesellschaftliche Veränderungen, die durch gewaltfreien Widerstand hervorgebracht werden, Menschenrechte und demokratische Grundsätze im Allgemeinen weitaus mehr respektieren. Die „Global Nonviolent Action Database“ listet Hunderte von Beispielen mit vollen und mit Teil-Erfolgen auf.

Was wäre, wenn seit 2014 derselbe Aufwand an Zeit, Finanzen, Verwaltungs- und internationaler Koordinationsarbeit nicht in die militärische Reaktion, sondern in die Ausbildung aller Ukrainer*innen zum gewaltfreien Widerstand geflossen wäre?

Sind wir sicher, dass das Ergebnis schlimmer gewesen wäre als die zerstörten Städte und die über 200.000 Toten, die der Krieg bisher gekostet hat?

Methoden des gewaltfreien Widerstands

1973 veröffentlichte der amerikanische Politikwissenschaftler Gene Sharp eine Liste mit 198 Methoden des gewaltfreien Widerstands. Diese reichen von symbolischen Protesten (Reden, Petitionen, Plakate, Flugblätter, Märsche, Streikposten, Teach-Ins usw.) über die Verweigerung der Zusammenarbeit (Verbraucherboykott, Zahlungsverweigerung, Betriebs- oder Generalstreiks, Boykott von Wahlen, langsame Einhaltung von Vorschriften usw.) bis hin zur Intervention (ziviler Ungehorsam, Hungerstreiks, Sit-ins, gewaltfreie Besetzungen usw.). Seitdem wurden weitere Methoden ausprobiert und das Internet eröffnet weitere Möglichkeiten.

Einige dieser gewaltfreien Taktiken wurden zu Beginn des Ukraine-Krieges eingesetzt, auch in Russland. Aber dies waren Einzelfälle. Bald dominierte der gewaltsame Konflikt.

Es darf nicht verschwiegen werden: Auch gewaltfreier Einsatz ist oft mit Leid verbunden. Gewaltfreie Aktivist*innen können verprügelt, erschossen oder getötet werden. Es erfordert Mut, gewaltfrei zu bleiben, wenn man zu Unrecht angegriffen wird (und mir ist klar, dass es leicht für mich ist, dies von zu Hause aus zu predigen). Deshalb ist für wirksames gewaltfreies Vorgehen eine Ausbildung erforderlich, und viele Organisationen haben sich darauf spezialisiert, diese anzubieten, z.B. das Metta Center oder das International Center on Nonviolent Conflict und viele mehr.

Hätte der gewaltfreie Widerstand Russland sofort besiegt? Nein.

Hätte es bei den gewaltfreien Versuchen Russland zu blockieren und daran zu hindern, durch die Ukraine zu marschieren und die Kontrolle zu übernehmen, viele Opfer gegeben? Zweifelsohne.

Aber würden die Zahlen den Blutzoll und den Schaden übersteigen, die durch den gewaltsamen Widerstand bisher entstanden sind?

Ist ein Sieg wirklich durch einen Krieg zu erreichen?

Wissen wir mit Sicherheit, dass ein koordinierter, disziplinierter und gewaltfreier Widerstand schlimmer gewesen wäre?

Die weiteren Auswirkungen des Krieges

Bedenken wir, wie Gewalt polarisiert und extremistische Ansichten an die Oberfläche bringt. Jede erlittene Gewalt wandelt sich so leicht in einen Aufruf zu Gewalt und Vergeltung. Der Hass wächst. Die Gegenseite wird zunehmend entmenschlicht. Hingegen wendet sich aktive Gewaltfreiheit an die Gegner*innen als menschliche Wesen. Dadurch wird Versöhnung eher vorstellbar.

Denken wir an die Auswirkungen des wachsenden Militarismus in der Ukraine und in Russland, aber auch in Europa. Von den nordischen Ländern über die baltischen Staaten bis hin zu Mitteleuropa werden die Wehrpflicht verlängert, die Armeebudgets aufgestockt und Militärbündnisse gestärkt.

Militaristische Denkweisen und gewalttätige Männlichkeitsvorstellungen verfestigen sich immer mehr, was sich auch auf die politische Kultur im Allgemeinen auswirkt.

Gewaltfreiheit würde stattdessen Vorgehensweisen friedlichen (aber echten) Widerstands fördern und neue Identitätsentwicklungen ermöglichen, die auf Empathie und integrative Vorstellungen von gerechtem Frieden setzen.

Bedenken wir auch Putins Position. Wie lange hätte er die Russ*innen zur Unterdrückung und Tötung ihrer Nachbarn einsetzen können, bevor sich sowohl die russische öffentliche Meinung als auch die Menschen, die seine Befehle ausführten, allmählich gegen ihn wenden würden? Hätte er tatsächlich argumentieren können, dass die Ukraine und die NATO eine Bedrohung darstellen?

Oder denken wir an das kleine, aber reale und erschreckende Risiko einer Eskalation bis hin zum Atomkrieg. Könnte ein Atomkrieg gegen den gewaltfreien ukrainischen Widerstand angedroht werden?

Betrachten wir schließlich die Opfer. Abgesehen von den Toten, Verletzten und Vertriebenen unter der Zivilbevölkerung sind Schätzungen der BBC zufolge auf beiden Seiten bisher mindestens 100.000 Soldaten ums Leben gekommen, und viele weitere wurden verletzt. Viele von ihnen sind Wehrpflichtige. War ihr Tod unvermeidlich und ausschließlich die Schuld der anderen Seite?

Die Vorstellung eines anhaltenden gewaltfreien Widerstands gegen die russische Invasion ist notwendigerweise eine kontrafaktische Spekulation. Was wir jedoch wissen, ist, dass der Krieg bereits jetzt extrem zerstörerisch war, dass seine Kosten steigen, dass sein Ausgang weiterhin sehr ungewiss ist, dass er noch weiter eskalieren könnte und dass er dem wachsenden Militarismus in Europa und darüber hinaus Vorschub leistet.

Könnte der verstorbene Politikwissenschaftler Dustin Ells Howes also Recht haben mit der Aussage: Vielleicht sind nicht die Pazifist*innen, sondern „häufiger die Gewaltanwendenden“ die „tragischen Idealist*innen“?

Liste der verwendeten Literatur

(in der Reihenfolge der erwähnten Inhalte, Abruf der Links am 11.09.2024)

Christoyannopoulos, Alexandre 2022 An Anarcho-Pacifist Reading of International Relations: A Normative Critique of International Politics from the Confluence of Pacifism and Anarchism. In: International Studies Quarterly, 66(4), sqac070, https://academic.oup.com/isq/article/66/4/sqac070/6748234

Jesperson, Maija 2020 Challenging Hobbes: Is War Inevitable? In: Global Society, 20(1), pp. 21-35. https://doi.org/10.1080/13600826.2019.1668363

Jackson, Richard 2019 Pacifism and the ethical imagination of IR. In: International Politics, 56, pp. 212-227. https://doi.org/10.1057/s41311-017-0137-6

Cheyney, Ryan 2015 Pacifisms. In: The Philosophical Forum, 46(1), pp. 17-39. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/phil.12053

Dexter, Helen 2019 Pacifism and the problem of protecting others. In: International Politics, 46(1), pp. 243-258. https://doi.org/10.1057/s41311-017-0134-9

Howes, Dustin Ellis 2013 The Failure of Pacifism and the Success of Nonviolence. In: Perspectives on Politics, 11(2), pp. 427-446. https://doi.org/10.1017/S1537592713001059

Encyclopedia Britannica The Poroshenko administration https://www.britannica.com/place/Ukraine/The-Poroshenko-administration

Journal of Pacifism and Nonviolence (Fachzeitschrift für Pazifismus und Gewaltfreiheit) https://brill.com/view/journals/jpn/jpn-overview.xml

Chenoweth, Erica & Stephan, Maria J. 2011 Why Civil Resistance Works. Columbia University Press. https://cup.columbia.edu/book/why-civil-resistance-works/9780231156820

Swarthmore College, „Global Nonviolent Action Database“, https://nvdatabase.swarthmore.edu/index.php/browse

Sharp, Gene 1973 198 methods of nonviolent action. Albert Einstein Institution. https://www.aeinstein.org/nonviolentaction/198-methods-of-nonviolent-action/

Joyce, Mary & Meyer, Patrick 2012 Civil Resistance 2.0: 198 Nonviolent Methods Upgraded. https://commonslibrary.org/198-nonviolent-methods-upgraded/

Daza Sierra, Felip 2022 Ukrainian Nonviolent Civil Resistance in the face of war. Analysis of trends, impacts and challenges of nonviolent action in Ukraine between February and June 2022. Barcelona: ICIP & NOVACT.

War Resisters International 2014 Nonviolent Training. London.
https://wri-irg.org/en/story/2014/nonviolence-training

Mettacenter 2024 School of Nonviolence, https://www.mettacenter.org/schoolofnonviolence

International Center on Nonviolent Conflict 2024 Train the Trainers. https://www.nonviolent-conflict.org/services/#section-6 

Whitman, James Q. 2014 The Verdict of Battle. The Law of Victory and the Making of Modern War. Harvard University Press. https://www.hup.harvard.edu/books/9780674416871

Dobos, Ned 2020 Ethics, Security, and The War-Machine: The True Cost of the Military. Oxford University Press. https://academic.oup.com/book/33775

Ferguson, R. Brian 2021 Masculinity and War. In: Current Anthropology, 62(2-3), pp. 108-120. https://www.journals.uchicago.edu/doi/full/10.1086/711622#_i17

BBC 2022 Ukraine war: US estimates 200,000 military casualties on all sides, 10. November 2022. https://www.bbc.co.uk/news/world-europe-63580372

Über den Autor

Alexandre Christoyannopoulos ist Dozent für Politik und Internationale Beziehungen an der Universität Loughborough in Mittelengland. Er ist Autor von „Tolstoi’s Political Thought“ (2020), „Christian Anarchism“ (2010), sowie einer Reihe von Zeitschriftenartikeln und Buchkapiteln über Leo Tolstoi und den religiösen Anarchismus. Er ist außerdem Chefredakteur des „Journal of Pacifism and Nonviolence“. Eine vollständige Liste seiner Veröffentlichungen steht auf seiner Website https://sites.google.com/site/christoyannopoulos/publications-by-theme.

Quelle: https://rethinkingsecurity.org.uk/2023/02/13/what-if-ukrainians-hadnt-fought-back/
Übersetzung: Redaktion gewaltfreieaktion.de (mit Unterstützung von DeepL)

Nach oben scrollen