Wie Bienen fliegen, wie Spinnen vernetzen

Bienen bestäuben die blumigen Ideen und Spinnen bilden Netze auf der US-Landkarte.
Bienen bestäuben die blumigen Ideen und Spinnen bilden Netze auf der US-Landkarte. Illustration: Hayne Park für Waging Nonviolence

Von John P. Lederach

Die ersten Monate der Trump-Regierung – und die rasche und weitreichende Festigung autokratischer Herrschaft – haben zu Recht zu Aufrufen zum kollektiven und nationalen Widerstand geführt.

Die renommierten Wissenschaftlerinnen im Bereich des zivilen Widerstands, Erica Chenoweth und Zoe Marks [aktuelles Buchprojekt: “Bread and Roses: Women at the Frontlines of Revolution” (Brot und Rosen: Frauen an der Spitze der Revolution)], haben die Notwendigkeit eines „groß angelegten, multikulturellen, klassenübergreifenden, pro-demokratischen Bündnisses“ beschrieben.

Und Maria Stephan, die für Just Security schreibt, nannte dies einen kritischen Moment, um den „Weg von der individuellen Angst zur kollektiven Aktion, von der isolierten Anstrengung zur großen Zeltformationen“ zu beschreiten. Die Schaffung einer solchen kollektiven Antwort erfordert jedoch ein hohes Maß an Kreativität und Konzentration, insbesondere – wie die genannten Autorinnen andeuten – wenn es darum geht, mit verschiedenen Gruppen in Kontakt zu treten und unerwartete Verbindungen herzustellen.

Der gegenwärtige Moment mit all seinen Herausforderungen in den Vereinigten Staaten kommt mir sehr vertraut vor. In den vier Jahrzehnten, in denen ich in der internationalen Friedensarbeit tätig bin – insbesondere in der Begleitung lokaler Gemeinschaften, die versuchen, Kreisläufe bewaffneter Gewalt zu beenden und gleichzeitig Würde und Gerechtigkeit in einem Kontext historischer Langzeitkonflikte zu schaffen – habe ich selten erlebt, dass eine einzelne Bewegung Gestalt annimmt. Die Herausforderung besteht immer darin, wie unwahrscheinliche Allianzen und Partner*innen zu gemeinsam koordinierten Aktionen finden können.

Die Herausforderung, eine solche kollektive Antwort zu finden, erinnerte mich an die aufrüttelnde Frage, die Insektenforscher*innen in den 1950er Jahren als „Paradox der Koordination“ bezeichneten, d. h. wie ganze Kollektive ohne zentrale Kontrolle ein gemeinsames Ziel erreichen.

Obwohl ihr Thema die Welt der Insekten betraf, waren ihre Entdeckungen ein Katalysator für Innovationen bei der Überwindung tiefer und lähmender Gräben in internationalen Zusammenhängen. Ein Großteil der Erkenntnisse beginnt mit einer einfachen Idee: Man muss lernen, sich strategisch in unterschiedlichen, gespaltenen und sogar stark polarisierten Umgebungen zu bewegen und dabei ein unrund laufendes Kreislaufsystem wiederherzustellen.

Die Praxis des Kreislaufens

Beginnen wir mit den Erkenntnissen, die die Insektenforscher*innen über die Koordinierung ohne zentrale Kontrolle gewonnen haben, indem sie untersuchten, wie Bienen bestäuben, Termiten ein Haus bauen oder eine Spinne ein Netz knüpft. Drei zentrale Praktiken scheinen besonders relevant zu sein.

Erstens bewegen sich diese Insekten in der Landschaft. Sie verbrauchen keine Energie, um Versammlungen einzuberufen; sie reisen und navigieren buchstäblich durch eine gegebene Geografie.

Zweitens kommunizieren und dienen sie auf ihren Reisen. Termiten zum Beispiel haben herausgefunden, wie sie auf ihrer Reise Ressourcen entdecken und mit anderen über ihre Funde kommunizieren können. Insektenforscher*innen konnten feststellen, dass diese Insekten kommunizieren, indem sie einen Duft in der Landschaft hinterlassen.

Die Kugelspinne, ein weiteres Beispiel, ist ein Genie, wenn es darum geht, einen Raum abzudecken, indem sie sich fortbewegt und Fäden hinterlässt, die weit entfernte, aber wichtige Ankerpunkte miteinander verbinden, so dass Knotenpunkte entstehen und ein größeres Netz geschmiedet wird. Zwischendurch sammeln Bienen Pollen und Nektar, was sowohl ihrem eigenen Bedarf als auch der Gesundheit des gesamten Ökosystems dient.

Und schließlich durchlaufen diese Insekten diverse Reiserouten, d. h. sie zirkulieren immer wieder und versorgen die Orte, an denen sie sich aufhalten, mit Nahrung, während sie Ressourcen zusammenbringen, die ebenfalls einem größeren gemeinsamen Zweck dienen.

Aber wie können diese Praktiken in einer Situation langwieriger Konflikte sinnvoll sein? Die NRCT-Bewegung (Natural Resource Conflict Transformation) in Nepal ist ein Beispiel dafür. Nach dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 2006 waren spaltende, gewaltsame Konflikte um den Zugang und die Nutzung natürlicher Ressourcen an der Tagesordnung. Bevölkerungsgruppen, die auf Wald und Wasser angewiesen waren, gründeten die NRCT-Bewegung. .

Konkret untersuchte NRCT, wie die strategischen Bewegungen einer Spinne in einem Gebiet nachgeahmt werden können, in dem es zu Konflikten um Land oder die Nutzung von Wäldern kommt. Dies führte zu der Idee, eine Spinnengruppe zu bilden – eine kleine gemischte Gruppe, die sich aus Einzelpersonen aus den geteilten Gemeinschaften zusammensetzte und gemeinsam zu den Orten reiste, an denen die vom Konflikt Betroffenen lebten. Es handelte sich dabei nicht um eine touristische Exkursion oder ein einfaches Erkundungsunternehmen. Die Spinnengruppe verbrachte Zeit in jeder Gemeinschaft, hörte zu, aß gemeinsam und hörte noch mehr zu.

Die Mitglieder der Spinnengruppe entwickelten etwas, das wir als Praxis der kollektiven Empathie bezeichnen könnten: Sie sahen und fühlten die Welt aus der verkörperten Lebenserfahrung jeder Gemeinschaft.

Sie reisten weiter und wiederholten die gleiche Praxis des geerdeten Zuhörens mit der nächsten Gemeinschaft.

Sobald der Kreislauf zu allen Bevölkerungsgruppen, die an dem Konflikt beteiligt waren, geschlossen war, kehrte die Spinnengruppe  zurück, um das Gehörte auszutauschen und ein tieferes Verständnis zu erlangen. Bei jedem Durchgang stellten sie einfache Fragen: Was wird benötigt? Welche Ideen könnten für die nächsten Schritte vielversprechend sein?

Das kreisförmige Vorgehen wiederholte sich immer wieder, manchmal über Monate oder sogar Jahre hinweg. Im Grunde wurde ein gestörtes Kreislaufsystem wiederhergestellt, umgewandelt in einen gemeinsamen Feedback-Kreislauf, der lokale Bedürfnisse und kollektives Verständnis sammelte und zu deren Befriedigung beitrug und gleichzeitig ein Gefühl der Beteiligung an Dingen schuf, das dort, wo die Menschen lebten, wirklich wichtig war.

Um zwei Metaphern zu vermischen: Die Spinnengruppe spann ein Netz – und wie Bienen bestäubten sie die Ressourcen über die  geteilte Landschaft hinweg. Sie kümmerten sich um die Bedürfnisse jedes Ortes, und webten dabei an etwas Gemeinsamem– und zwar ohne die Menschen der Orte in ihrer Gesamtheit zusammenzurufen, solange sie dazu nicht bereit waren. Insektenforscher*innen würden vielleicht sagen, dass sie einen Weg gefunden haben, um über tiefe Unterschiede hinweg ohne zentrale Kontrolle ein gemeinsames Bewusstsein und einen inneren Zusammenhalt zu schaffen.

Starke kollektive Reaktionen ermöglichen

Der Kreislaufansatz schließt den Ansatz, die Leute zusammenzurufen, nicht aus bzw. steht ihm nicht entgegen. Aber er folgt nicht der Logik einer Bürger*innenversammlung, einer politischen Kundgebung, einer einmaligen Konferenz oder einer Umfrage. Der Kreislaufansatz deutet darauf hin, dass wir zu sehr auf Zusammenkünfte von Schlüsselfiguren gesetzt haben, um zu planen und Entscheidungen zu treffen, und zu wenig auf Praktiken des intensiven Zuhörens, des Austauschs, der Innovation und des Netzwerkens vor Ort.

Die nachhaltigsten sozialen Bewegungen sind diejenigen, die über ein robustes Kreislaufsystem verfügen, das weniger von der Fragilität der Repräsentation als vielmehr von den Grundsätzen der Zugänglichkeit, der Partizipation und der Verfügbarkeit relevanter Ressourcen am Wohnort der Menschen abhängt. Für die Förderung eines besseren und reaktionsfähigeren Kreislaufsystems scheinen drei Wegweiser relevant zu sein.

1. Verankerung in den Orten schaffen

Zirkulieren bedeutet, Zeit zu investieren, um die Menschen dort zu verstehen und zu treffen, wo sie sind, wo sie leben und wo sie versuchen, der Welt einen Sinn zu geben.

Dies ist mehr als nur eine demonstrative Wertschätzung der Vielfalt, sondern bildet die Grundlage dafür, dass unterschiedliche und einander  fremde  Gruppen von Menschen gemeinsam Würde und Verbindung  schaffen können, indem sie das Gespräch an dem Ort beginnen, an dem sie leben, und dann ein gemeinsames Gespräch über ein sich ausweitendes Ganzes spinnen.

Wir können „Ort“ sowohl als geografische Unterschiede als auch als unterschiedliche Interessensphären, Sektoren, Netzwerke und Berufe verstehen. Was einen guten Wandel nachhaltig macht, ist nicht das Erzwingen von Gleichgesinntheit, sondern auf kreative Weise zu lernen, wie durch die Kultivierung sinnstiftender Gespräche eine Abstimmung zwischen Gleichgesinnten und Andersdenkenden über Unterschiede hinweg entsteht.

2. Verstreute Fäden miteinander verweben

Zirkulieren ist kein Einzelereignis, sondern ein kontinuierlicher Prozess, bei dem Gespräche, die zuvor wahrscheinlich nie geführt worden wären, zusammengewoben werden.

Anders formuliert: Es geht um die Fähigkeit, Ideen, Vorschläge und Innovationen wahrzunehmen, zu teilen und standortübergreifend zu testen. Bei diesem Ansatz wird die Macht des Sich-Einbringens über die Auferlegung von Kontrolle gestellt.

Im Kern geht es beim Kreislaufen darum, sich immer wieder mit anderen zu versammeln und auszutauschen, um ein Verständnis für die Bedürfnisse und Innovationen im Umgang mit lokalen Herausforderungen zu eröffnen und gleichzeitig einen gemeinsamen Lernprozess anzustoßen, dessen Kern einen weiter gefassten Lebenszweck umfasst, der über den eigenen Standort hinausgeht.[So werden verstreute Fäden zu einem starken Netzwerk von unten nach oben zusammengewoben, d. Red.]

3. Eine kritische Hefe hervorrufen

Auch wenn hier in den USA der Moment für eine spektakuläre Massenbewegung gekommen sein mag, so ist es doch letztlich die Ausbreitung einer kritischen Hefe, die ihr Wachstum erst möglich macht. Damit meine ich die Qualität von kleinen Ansammlungen von ungewöhnlichen Beziehungen, die dort, wo sie leben, einen Unterschied machen.

Hefe ist die kleinste Zutat beim Brotbacken, aber die einzige, die alles andere wachsen lässt. Das ist es, was NRCT verstanden hat: wie eine kleine, vielfältige Gruppe, die Zeit in jeder Gemeinschaft verbringt, überraschende Überlegungen und mit der Zeit koordinierte gemeinsame Aktionen für ein breiteres Gemeinwohl schaffen kann.

Dauerhafte Veränderungen haben ihre Wurzeln immer in der Qualität des Kreislaufsystems, in den tausend Gesprächen, Aktionen und Innovationen an tausend Orten, die das Netz knüpfen, das der engstirnigen Tyrannei von Vereinzelten, Gewalt und Unterdrückung widerstehen kann.

Der Aufruf zu einer breiten Bewegung könnte in diesen Zeiten nicht dringlicher und notwendiger sein. Und es kann sich auch überfordernd, wenn nicht gar lähmend anfühlen, sich vorzustellen, wie genau so etwas auf nationaler Ebene geschehen soll.

Die gute Nachricht ist: Wir müssen uns die perfekte nationale Bewegung nicht vorstellen. Was die nationale Ebene am meisten braucht, ist ein solides lokales Zusammenwachsen und die Suche nach besseren Wegen, um unser gestörtes Kreislaufsystem anzugehen. In diesem Moment gilt es, die Herausforderung der Spinnengruppe und das sehr praktische Prinzip der Erreichbarkeitsfragen anzunehmen:

Zu wem habe ich dort, wo ich lebe, Zugang? Und welche Gruppe könnte, wenn sie einen Weg fände, gemeinsam durch unsere unmittelbare, geteilte lokale Landschaft zu reisen, die unwahrscheinlichen, überraschenden Gespräche führen, die unsere Gemeinschaft zu einem besseren Beziehungsgeflecht beflügeln könnten?

Es ist letztendlich die Sorgfalt, mit der die verstreuten Fäden miteinander verwoben werden, die ein Ganzes  fest zusammenhält.

Zum Text

Zum Autor

John Paul Lederach ist emeritierter Professor der Universität Notre Dame, USA, und  wissenschaftlicher Mitarbeiter der Organisation „Humanity United“.

Als Praktiker-Wissenschaftler hat er sich mit Konflikttransformation und Friedenskonsolidierung in Langzeitkonflikten auf der ganzen Welt beschäftigt und ist Autor oder Herausgeber von 30 Büchern, darunter „The Moral Imagination: The Art and Soul of Building Peace” (Die moralische Vorstellungskraft: Kunst und Seele des Friedenstiftens) und das kürzlich erschienene „Handbuch für den Kampf gegen einen Bürgerkrieg”.

Die meisten seiner Arbeiten sind jetzt im Archiv auf seiner Website frei zugänglich.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen