Von Katja Tempel
Kurz vor Weihnachten gelang es der Crew des Seenotrettungsbootes TROTAMAR III, ein 11-jähriges Kind mitten in der Nacht aus dem Mittelmeer vor Lampedusa zu retten. Die Freude war enorm! Dabei war alles reiner Zufall.
Die TROTAMAR III, ein 13m langes Segelboot der wendländischen Organisation CompassCollective (Verein Grenzenlos – People in Motion e.V.), ist in den frühen Morgenstunden des 12.12.2024 gerade auf der Suche nach einem Boot in Seenot. Um 3.20 Uhr entdeckt die Wache an Bord ein Licht in der Ferne – unklar, ob von einem Fischerboot oder vielleicht von dem gesuchten Boot. Um erstmal Zeit zum Bewerten zu haben, drosseln sie den Motor – und damit auch die Motorgeräusche. So hören die zwei Menschen auf Wache plötzlich ein Rufen aus dem Meer. Mit Suchscheinwerfern entdeckt die Crew schnell eine im Meer treibende Person und leitet ein Rettungsmanöver ein.


An Deck stellt sich dann heraus, dass das Mädchen, das in den Medien Yasmin genannt wurde, weil ihr Name nicht bekannt ist, aus Sierra Leone kommt und 11 Jahre alt ist. Ihr Metallboot sei vor drei Tagen mit 44 anderen Menschen auf der Flucht gesunken. Sie sei die einzige Überlebende, sagte Yasmin.
Ein weibliches Crewmitglied und der Medic kümmern sich um die Gerettete, in dem sie Wärme und heißen Tee bereitstellen. So steigt die Körpertemperatur stetig aus der Hypothermie in einen normalen Bereich. Nach ein paar Stunden wird das Kind an das Rote Kreuz in Lampedusa übergeben. Ärzt*innen auf Lampedusa erklären später, Yasmin hätte nicht drei Tage lang im Wasser gewesen sein können. Aufgrund von Schock, Kälte und Einsamkeit hat sich vermutlich das Gefühl für die Zeit verändert. Dennoch geschah die Rettung gerade noch rechtzeitig. Die Crew der TROTAMAR III bemühte sich vier Stunden lang erfolgreich darum , dass die Körpertemperatur wieder in den Normalbereich stieg.
Medienhype um das Wunder im Mittelmeer
Obwohl die Rettung zwar in der Nacht, aber im ruhigen Wasser, ohne überstürzte Hast und „routiniert“ abgelaufen ist, wurde in den Medien die Rettung des Mädchens häufig überdramatisiert: Angeblich bei Sturm, mit Leuchtraketen gesichtet, nachdem wir unser Rettungsboot zu Wasser gelassen hätten. In Italien und auch europaweit erfuhr das Ereignis einen regelrechten Medienhype: „Das Wunder im Mittelmeer“ bot sich in der Vorweihnachtszeit hervorragend für eine tränenrührende Berichterstattung an. Von BBC London, einer marokkanischen Presseagentur und der BILD über die größten italienischen Printmedien und eine vietnamesische Presseagentur griffen Mainstream-Medien das Ereignis auf. Auch Luciana Littizzetto, eine feministische Comedienne aus Italien, widmete Yasmin einen öffentlichen Brief:
„Der Brief stellt eine Geste der Solidarität und Nähe zu der jungen Frau dar, die eine dramatische Reise erlebt hatte, bevor sie von Freiwilligen gerettet wurde.“

Forderung nach sicheren Passagen wird ignoriert
Die Freude über die genannte Berichterstattung wich bei uns im CompassCollective schnell der Erkenntnis, dass dieses Ereignis als singuläres und dadurch emotional anschlussfähiges „Wunder“ abgetrennt wird von der wirklich dramatischen Situation vieler Menschen auf der Flucht. Unsere Forderung nach sicheren Passagen für Flüchtende und einem offenen Europa wurde von den meisten Medien ignoriert.
In 2024 sind mehr als 1.600 Menschen im Mittelmeer gestorben oder wurden als vermisst gemeldet. Seit 2014 ist dadurch die Anzahl der Mittelmeer-Toten auf mehr als 30.000 Menschen gestiegen, so die Zahlen des Civil Maritime Rescue Co-ordination Centers (CMRCC). Diese Menschen bekommen keine Aufmerksamkeit, weil sie meist nicht sichtbar sind und keine bekannten Namen haben. Ein Einzelschicksal dagegen, wie das von Yasmin, hat die Chance, Herzen zu öffnen. Doch ist diese Berührtheit wirklich nachhaltig? Und wird diese Betroffenheit sogar in Handeln umgesetzt?
Sektempfang auf Sizilien
Im Heimathafen in Licata/Sizilien wurde die Crew der TROTAMAR III mit Sekt empfangen- Fremde Menschen in Cafés bedankten sich beim CompassCollective. Die Lokalzeitung bat um ein exklusives Interview. Für eine Seenotrettungs-NGO ist das alles Balsam auf die Wunden, die durch die repressive italienische Gesetzgebung und das Piantedosi-Dekret (ein Dekret des Innenministers Matteo Piantedosi, das sich gegen die Arbeit der Seenotrettung richtet, d. Red.) entstehen. Es ist Balsam auf die Wunden, die die Abschottungspolitik Europas auch bei uns Europäer*innen hinterlässt, denn durch sie wird nicht nur die Würde der Flüchtenden, sondern auch unsere eigene Würde verletzt.
Eine demokratisch freie Gesellschaft ist in Europa nur dann möglich, wenn es nicht als befestigte Enklave, sondern als Teil einer globalen, solidarischen Gemeinschaft gelebt wird, in der Zuwanderung nicht als Bedrohung, sondern als Chance verstanden wird.
Das CompassCollective hat sich genau deswegen gegründet und ist verwurzelt im Widerstand gegen die Atomanlagen, Castor-Transporte und Militär:
Wir sind aktionserfahrene Aktivist:innen aus dem Wendland. In der Auseinandersetzung mit der Atompolitik haben wir Bündniserfahrung gesammelt; wir können netzwerken und mit der Gegenseite in einen Dialog treten; wir können Situationen deeskalieren; wir haben jahrzehntelange Erfahrungen mit Basisdemokratie und dem Konsensprinzip. Und doch sind wir offen und neugierig auf ein neues Handlungsfeld und freuen uns auf neue Erkenntnisse, neue Zusammenarbeit, Teamarbeit und eigenes Wachsen, nicht nur mit der Absicht politische Veränderungen zu bewirken, sondern auch selber handlungsfähig zu sein – gegen die Ohnmacht und Verzweiflung, die uns manchmal befällt.“ (Aus der Selbstbeschreibung auf der Website).
Viktimisierung entframen – Opferrolle umdeuten
Wut entsteht auch, wenn in den Medien und in der Zivilbevölkerung das Bild des hilflosen kleinen Kindes erzeugt wird. Ein Kind, zudem noch ein Mädchen, zudem noch eine SCHWARZE: Das ist das Klischee von einer als extrem schwach, ohnmächtig und bemitleidenswert eingestuften Person.
Doch verändern wir das Framing, ist der Crew eine starke Person begegnet: Sie hat zwei Nächte und drei Tage im kalten Mittelmeer verbracht (nur am ersten Tag waren noch zwei andere Menschen in ihrer Nähe). Sie hat es geschafft, langsamer auszukühlen und ihre Körperkerntemperatur über einem tödlichen Niveau zu halten (wohl mit Hilfe der sehr einfachen Rettungsweste und den zwei mit Luft gefüllten Gummischläuchen um ihre Taille, die zumindest den Oberkörper und damit den gesamten Körper warmgehalten haben, aber auch mit ihrer Lebensenergie). Sie hat genug Kraft gehabt zu rufen, als das Segelboot neben ihr auftauchte. Sie hat überlebt. Sie war stark. Sie wird ihren Weg gehen. So wie viele andere der 1209 Menschen, die durch das CompassCollective seit dem Einsatzbeginn im August 2023 in Seenot unterstützt und ihre Rettung durch Alarmierung der Rettungsleitstelle in Rom veranlasst wurde. 231 Menschen wurden dabei direkt auf die TROTAMAR III gerettet.
Hoffnung, das etwas bleibt.
Und die Wut? Sie bleibt. Und mit ihr die Hoffnung, dass wie im Fall von Alan Kurdi (ein dreijähriges kurdisches Kind, das 2015 ertrunken am Strand gefunden wurde und dessen Foto um die Welt ging) etwas bleibt. Beides zusammen ist richtig: Sich für diese junge Frau und ihre Rettung zu freuen; aber auch die tragische Situation und den Druck vieler Menschen, sich in die Gefahr des offenen Meeres zu begeben, nicht auszublenden.
Das CompassCollective nimmt die Wut über die Verteidigung der Festung Europa an den europäischen Außengrenzen und im Mittelmeer mit in dieses neue Jahr und wird die TROTAMAR III in einer Werftzeit für weitere neun Such- und Rettungseinsätze fit machen.
Mehr Infos
www.compass-collective.org (hier auch alle Informationen zum Mitmachen und Mitsegeln)
Instagram: https://www.instagram.com/compasscollective_boatspotting/
Facebook : https://www.facebook.com/compasscollectiv/
Mastodon : https://digitalcourage.social/@boatspotting
Spenden auch über : https://betterplace.org/p121266
Über die Autorin
Katja Tempel, Jahrgang 1963, ist langjährige gewaltfreie Aktivistin und Mitinitiatorin des CompassCollective.
Die Hebamme und Sozialpädagogin aus dem Wendland ist seit Jahrzehnten im Gorleben-Widerstand aktiv und initiierte 2011 die Kampagne „gorleben365“, bei der ein ganzes Jahr lang vor dem geplanten Endlager für Atommüll Blockaden stattfanden. Auch vor dem Atomwaffenstützpunkt Büchel in der Eifel oder auf dem Truppenübungsplatz (GÜZ) in der Altmark organisiert Katja Tempel zusammen mit anderen Aktionen.
Die Erfahrungen aus dem gewaltfreien Widerstand gegen Atomanlagen geben dem Projekt Rückenwind für das Segeln gegen die Festung Europa. Vor der Seenotrettung unterstützte sie People on the Move (Geflüchtete, d. Red.) auf der Balkanroute und als Hebamme im Wendland. Ziviler Ungehorsam gegen Unrecht ist für sie ein Lebensprinzip, für das sie auch schon ins Gefängnis gegangen ist.