Wer hätte das gedacht? Keiner! Weder Politiker*innen noch politisch wissenschaftlich Tätige – niemand hatte es vorhergesehen. Und dabei veränderten die Ereignisse im Herbst 1989 in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) die Weltgeschichte! Es wird gesagt: Neben anderen Gründen spielte aktive Gewaltfreiheit eine wesentliche Rolle.
Stimmt das? Gewaltfrei im Familienkreis: ja das können wir – besser gesagt: wollen wir lernen und erleben es auch, wenn wir Glück haben. Aber in der Politik erleben wir doch weithin etwas ganz anderes. Hat es in der „großen Politik“ wirklich bedeutende Veränderungen gegeben ohne Anwendung von Gewalt? Gandhi, ja, der ist bekannt, hatte aber auch Glück mit den Briten als Gegnern in der Kolonialpolitik: Engländer sind eben Gentlemen. Nur ein Einzelfall oder wirkt Gewaltfreiheit auch anderswo in der „großen Politik“?
Was genau lief ab im Herbst 89? Was für „gewaltfreie“ Sachen machten die Leute? Wie trugen diese dazu bei, dass die DDR-Diktatur endete?
Ich habe mich mit diesen Fragen gründlich beschäftigt und zeige auf, wie die Ereignisse im Zusammenhang mit Gandhis Streitkunst zu verstehen sind. Ich wechsele dabei zwischen allgemeineren Informationen und Berichten über Leipzig.
In vier Folgen zeige ich zunächst die wesentlichen historischen Ereignisse im Zusammenhang mit den Friedensgebeten bis zum Oktober 1989 auf. Danach analysiere ich die gewaltfreien Aktivitäten anhand von Forschungsergebnissen zur Gütekraft. So werden handlungsleitende Elemente sichtbar, die auch in anderen Zusammenhängen eine Rolle spielen können. Den Schluss bildet ein Abschnitt zur Bedeutung dieser Ereignisse.
Als gesamter Text mit allen vier Teilen ist der Artikel hier zu lesen.
Wie kann gewaltfreies Vorgehen zu politischem Erfolg führen?
Einer der Gründe: Die Kraft aktiver Gewaltfreiheit traut allen Menschen ausdauernd Gutes zu, auch gegen den anfänglichen Augenschein.
Sie „ist so alt wie die Menschheit“ (Gandhi) und ihr globales Erbe. Sie hat viele Namen: „Strength to love – Stärke zu lieben“ (Martin Luther King), „force de la justice – Kraft der Gerechtigkeit“ (Lanza del Vasto), „firmeza permanente – dauernde Festigkeit“ (Lateinamerika), „Alay Dangal – Würde anbieten“ (Philippinen), „satyagraha – Festhalten an der Wahrheit“ (Gandhi).
Der Inder erklärte seinen neuen Begriff als „Kraft, die aus Wahrheit und Liebe entsteht“ – „Gütekraft“ finde ich eine passende Übersetzung und benenne die Kraft aktiver Gewaltfreiheit im Folgenden mit diesem Begriff. Gandhi benutzte auch das englische non-violence, die wörtliche Übersetzung des indischen ahimsa, zu Deutsch: Nicht-Gewalt, Gewaltlosigkeit, Gewaltfreiheit. Diese uralte Tradition bezeichnet mit ahimsa eine besondere Stärke; diese meinte Gandhi.
Weil im Westen dagegen Gewalt weithin als das Stärkste gilt, werden Gewaltlosigkeit oder Gewaltfreiheit oft als schwach missverstanden, als reines Nicht-Tun, nicht Gewalt anwenden. Darum ist es hier wichtig, den Kraft-Aspekt hervorzuheben. Es geht um aktives konzeptionelles Handeln, das Veränderungen gestaltet.
Bis heute werden bürgerschaftliche Aktivitäten, die von der Tradition aktiver Gewaltfreiheit inspiriert sind, kaum als stark oder politisch bedeutsam ernstgenommen (zumal, wenn sie mit Religion zusammenhängen).
Dass dadurch Wirklichkeit ausgeblendet wird, belegt eine preisgekrönte Studie, die zeigte: Die ohne oder mit wenig Waffengewalt begonnenen Aufstände von 1900 bis 2006 waren anteilig doppelt so oft erfolgreich wie die Erhebungen mit Waffen (Chenoweth & Stephan: „Why Civil Resistance Works”, 2011).
Und auch Deutschland hat hautnah erlebt, wie eine Diktatur auf gewaltfreie Weise beendet wurde. Von dieser wunderbaren Erfahrung ist viel zu lernen, auch heute!
Was bis zum Oktober 1989 geschah
Die sogenannte Diktatur des Proletariats (Selbstbezeichnung) der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) führte gegen politisch missliebige Personen im ganzen Land vielfältige Unterdrückungsmaßnahmen durch. Sie endete im Herbst 1989. Dieses Ende hatte viele Ursachen. Zu ihnen gehören Einflüsse von außen und von innen, darunter wirtschaftliche Schwierigkeiten, die Unzufriedenheit im Volk erzeugten oder verstärkten, angefeuert durch Informationen aus dem Westfernsehen über ‚das Leben in Freiheit‘ in der Bundesrepublik Deutschland (BRD).
Auch die liberale Einstellung des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), Michail Gorbatschow, in Moskau spielte im Hintergrund eine wichtige Rolle und ebenso das politische Rumoren in Nachbarstaaten, etwa in Polen durch die Gewerkschaft Solidarność.
Die Friedensgebete in der DDR trugen schließlich entscheidend zum Erfolg der Friedlichen Revolution bei. Sie mobilisierten die Kraft zur Veränderung.
Schon vor 1989 gab es in der gesamten DDR einen gesellschaftlich-politischen Aufbruch, der sich an vielen Orten öffentlich zeigte, so auch in den Friedensgebeten. Die Betenden fühlten sich von der sie immer wieder stärkenden Beziehung zu Gott getragen. Das war entscheidend für die Bewusstseins- und Netzwerkbildung. Später bedeuteten u.a. die Ökumenischen Versammlungen 1988/89 in der DDR mit ihrem Eintreten für „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ sowie kirchliche Impulse aus dem europäischen Ausland weitere wichtige Schritte zur Verbreiterung dieses Prozesses.
Besonders bekannt geworden sind die Leipziger Gebete jeden Montag um 17 Uhr. Neben den vielen Friedensgebeten in anderen Städten trugen gerade sie wesentlich zur Friedlichen Revolution bei. Entscheidenden Einfluss hatte in Leipzig eine Kerngruppe von Menschen, die beharrlich und allen Widerständen zum Trotz ein starkes, zivilgesellschaftliches Netzwerk aufbauten. Sie bestand aus denen, die das Friedensgebet in der Nikolaikirche montags um 17 Uhr gestalteten, seit 1982 zunächst unter der Leitung von Pfarrer Christoph Wonneberger, später unter Pfarrer Christian Führer. Die Leipziger Pfarrer, der Gemeinderat und Menschen auf höherer kirchlicher Ebene unterstützten und schützten die Gebete mit Mühe gegen staatliche Angriffe.
In der ganzen DDR, auch in Leipzig, wurde die freie Meinungsäußerung der Menschen unterdrückt. Außerdem wurden Tausende Ausreisewillige gesellschaftlich ausgegrenzt. Viele waren empört, viele hatten resigniert.
In kirchlicher Wahrnehmung gehörten sie damit zu den „Mühseligen und Beladenen“, für die Jesus gekommen war und für die daher die Kirche zuständig war. Für diese Menschen wurde die Nikolaikirche – getreu ihrem Motto am Portal: „offen für alle“ – zu einem Raum für freie Begegnung und freies Gespräch.
Die Friedensgebete wurden von den teilnehmenden zivilgesellschaftlichen Gruppen gestaltet – ein wichtiges Strukturelement. Damit fanden die Inhalte und Gespräche der Zivilgesellschaft einen kirchen-öffentlichen, offiziellen Ausdruck. Die Friedensgebete boten dem freien Dialog über Politik und Gesellschaft, den die DDR-Politik zu verhindern suchte, einen gewissen Schutzraum und eine Quasi-Öffentlichkeit, in der er begonnen werden konnte.
Pfarrer Christian Führer schreibt in seinem Buch „Und wir sind dabei gewesen – Die Revolution, die aus der Kirche kam (2010)“: Beim Beten wurden – dem staatlichen Druck zum Trotz – bestimmte Grundsätze beachtet.
Die Gebete sollten:
- im Geist der Versöhnung geschehen,
- sich nicht auf Wirklichkeitsbeschreibungen beschränken, die in Ausweglosigkeit enden,
- konstruktive Handlungsmöglichkeiten aufzeigen,
- keine Herabwürdigung von Personen beinhalten – gewaltfreies Handeln vermeidet auch verbale Gewalt,
- ungeschminkten, ehrlichen Zeugnissen der Betroffenheit in Trauer und Wut ohne „die unerträgliche Ausgewogenheit vieler kirchlicher Verlautbarungen“ einen Raum bieten,
- das wahrheitsgemäße Aufdecken von Unrecht anstreben.
Das Gespräch und das Gebet in dieser Atmosphäre wurden allmählich zur Gewohnheit. Sie veränderten die Beteiligten. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit nahmen ab. Die Anliegen „vor Gott zu bringen“, entlastete von der Vorstellung, vereinzelt zu sein, alles allein machen zu müssen und damit von eigener Überforderung. Es ermöglichte Hoffnung durch die Befreiung vom Fatalismus und durch die Eröffnung einer realistischeren Beurteilung der Lage: jede Lage ist zukunftsoffen. Die veränderten Menschen fassten Vertrauen in die Zukunft, anstatt in Wut oder in Angst zu versinken. Immer mehr Menschen kamen bewusst in diesem Geist zusammen und gaben ihm Ausdruck, machten ihn stark. So wuchsen Vertrauen, Mut und Hoffnung auf die Zukunft; das war ansteckend.
Wie stark im Laufe von Wochen, Monaten und Jahren Hoffnung und Mut bei vielen geworden waren, zeigte sich am 9. Oktober.
Davon handelt Teil 2.
Zum Autor
Dr. Martin Arnold ist Friedensforscher in Essen, siehe https://martin-arnold.eu und zugleich Redaktionsmitglied der gewaltfreien aktion.