von Martin Arnold
Hildegard Goss-Mayr wird am 22. Januar 1930 in Wien geboren. Sie wächst hinein in eine Politik und Gesellschaft, die „das Recht des Stärkeren“ verherrlichen und den 2. Weltkrieg führen. Das Ausmaß der Zerstörung, des Leids und der Entmenschlichung sind größer und bedrückender als jemals zuvor; das Menschenbild liegt in unzähligen, winzigen Trümmern. Der Atompilz steht am Himmel als Symbol des Größenwahns und der Selbstauslöschung der Menschheit. Doch in all der Angst, Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit und Gefahr hat bereits die 12-jährige Hildegard einem gewaltigen Druck standgehalten: Bei einem Besuch des Reichskanzlers in Wien 1942 reckte sie inmitten der jubelnden Massen und ihrer Klassenkameradinnen den Arm nicht zum Hitlergruß.
Ihr Vater Kaspar Mayr war der Gründer des österreichischen Zweigs des Internationalen Versöhnungsbunds. Unter Hitler bekam er Berufsverbot. So kam die Familie nur mühsam durch Übersetzungen im Untergrund über die Runden.
Während die Welt zusammenbrach, bot der christliche Glaube Halt. Die Worte aus der Bergpredigt: „Liebet eure Feinde“ und die Hingabe des Erlösers am Kreuz zeigten einen Weg für die innig ersehnte Befreiung aus einer Welt, in der der Mensch des Menschen Wolf zu sein schien. Gott befreit den Menschen, indem die Menschen sich aus der Kraft Gottes selbst befreien. Die grausame Wirklichkeit des Krieges, seiner Ursachen und Folgen verursacht bei Hildegard eine tiefe Existenzkrise. Sie kann diese dank des Vorbilds des gewaltfreien Jesus Christus überwinden, der sich mit der Bereitschaft zur Hingabe seines Lebens für die Armen und Geächteten, für Gerechtigkeit und Frieden einsetzte.
Für sie ist nun klar: „Wer einmal erkannt hat, dass der Weg des gewaltfreien Widerstandes und der sich hinschenkenden Liebe der Weg zum Heil, der Weg zum inneren und äußeren Frieden der Menschheit ist, der kann nicht anders – ohne sich selbst zu verraten –, als unentwegt dafür zu kämpfen.“ Mit 23 Jahren stellt sie ihr Leben in einen solchen Dienst für den Frieden.
Arbeit beim Internationalen Versöhnungsbund
Hildegard Goss-Mayr studiert Philosophie, Philologie und Geschichte in New Haven und Wien und schließt 1953 ihr Studium mit der Promotion ab. Im selben Jahr beginnt sie, für den Internationalen Versöhnungsbund zu arbeiten. 1958 heiratet sie den Franzosen Jean Goss, der durch ein mystisches Erlebnis zum Friedensaktivisten geworden ist. Sie bekommen zwei Kinder. In den folgenden Jahrzehnten ist sie gemeinsam mit ihrem Mann unermüdlich im Einsatz. Zunächst steht die Ost-West-Verständigung und die Versöhnung nach dem 2. Weltkrieg im Mittelpunkt. In der Tschechoslowakei, in Russland, Ungarn, den USA, Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien und in Polen ermöglicht und fördert sie im Kalten Krieg über Block-, Ideologie- und Klassengrenzen hinweg vor allem unter Christ*innen den Dialog zur Überwindung der Feindschaft.
Seit 1962 arbeiten sie in Lateinamerika für den „Aufbau gewaltloser Befreiungsbewegungen“. Sie beraten Bischöfe wie Dom Helder Câmara in Brasilien, viele sind von ihnen beeinflusst, auch der argentinische Friedensnobelpreisträger Adolfo Perez Esquivel, der als Präsident des gesamt-lateinamerikanischen Servicio Paz y Justicia (SERPAJ) im Jahr 1980 den Friedensnobelpreis erhält; weiterhin Papst Franziskus, mit dessen Unterstützung im Herbst 2024 in Rom das katholische Institut für Gewaltfreiheit gegründet wird.
Hildegard und Jean Goss-Mayr entwickeln Schulungen und Seminare, um unterdrückte Menschen und Gruppen mit Spiritualität und Praxis, mit der Haltung und den Methoden des gewaltfreien Einsatzes für Gerechtigkeit und Frieden vertraut zu machen. Dabei wird sie unterstützt von James Lawson, der in Indien Gandhis gewaltfreie Streitkunst kennengelernt und Martin Luther King in der US-Bürgerrechtsbewegung zur Seite gestanden hat.
Die Theologie der Befreiung hat ihr selbst aus der Existenzkrise geholfen. Im ähnlichen Sinne möchte sie auch anderen ermöglichen, Angst, Unterwürfigkeit, Ohnmacht und Passivität zu überwinden: Mit der Kraft der Gewaltfreiheit die Lebensbedingungen verbessern hin zu dem großen Ziel, das Jesus im Johannesevangelium das „Leben in Fülle für alle“ nennt. Befreiung bedeutet, Gewalt in ihren verschiedenen Formen zu überwinden. Dies beginnt mit gemeinschaftlichem – modern gesprochen – Empowerment, mit dem Abbau von Ängsten, von verinnerlichter Gewalt in uns selbst, und Realisierung der eigenen Würde wie der Würde aller als „zu Gottes Ebenbild geschaffenen“ Menschen. Dazu gehört die Berufung, Gutes zu tun, die uns wie allen im Gewissen spürbar wird. Damit ist der allgemeine Weg, Unrecht und Gewalt abzubauen, markiert: Die Ansprache im Gewissen kann auch bei Menschen, die für Gewalt verantwortlich sind, zur Verhaltensänderung führen. Diese geschieht nicht durch Zwang, sondern durch Dialog, wenn nötig beharrlich in der Öffentlichkeit, etwa durch gewaltfreie Aktionen zur Meinungsbildung, Bewusstwerdung und Solidarisierung.
Ihre eigene Rolle versteht Hildegard Goss-Mayr dabei als Hebammendienst, als eine Mentorin, die die Selbstbefreiung begleitet. Das kann gefährlich sein. In Lateinamerika erfährt sie staatliche Unterdrückung am eigenen Leib und berichtet von ihrer Inhaftierung in der Diktatur Brasiliens in den 1960er Jahren.
Staatliche Repression am eigenen Leib
„Als wir unser Gepäck am Flugplatz abholen wollten, wurden Mario, Adolfo P. Esquivel und ich von der Geheimpolizei umstellt, verhaftet und, schwarze Kapuzen über den Kopf gestülpt, in ein Folterzentrum nahe des Flugplatzes gebracht. Sie hatten Gewerkschaftsliteratur aus Argentinien bei uns entdeckt. Man beschuldigte uns einer internationalen Verschwörung. Mario, der schon einmal in diesem Gefängnis war, hielt die Lage für ernst. Wir wurden einzeln verhört, bedroht, der psychischen Folter unterzogen. Nie werde ich die ruhige, starke Stimme von Mario vergessen, die den Raum füllte: Sein Zeugnis vom gewaltfreien Kampf für die Armen, ein Kampf, der Polizei und Militär in die Befreiung einschließt […] Musik mit Schreien der Gefolterten, grelles Licht in die Augen, Vorführung von Gefolterten. Das gemeinsame Gebet stärkte uns. Wir beschlossen, einige Tage zu fasten, und erklärten den Wärtern, dass wir dies auch für ihre Umkehr tun. Durch die Intervention von Kardinal Arns wurde schließlich unsere Freilassung erwirkt. Als wir das Gefängnis verließen, umarmten mich die Arbeiterfreunde von ‚Perus’ [1] und sagten: ‚Jetzt gehörst Du erst wirklich zu uns, weil es Dir so wie uns ergeht!‘“
Anfang der 1970er Jahre weiten sie ihr Engagement auf Afrika und in den Nahen Osten aus, in den 1980er Jahren nach Asien. Danach gilt ihr Engagement der Friedensförderung in den Staaten des Gebietes der „Großen Seen“ in Ostafrika. Ihr lebenslanger Einsatz hat auch dazu beigetragen, dass gewaltfreie Bewegungen diktatorische bzw. autoritäre Systeme überwinden konnten, wie z.B. die Militärdiktaturen in Lateinamerika der 1970er und 1980er Jahren, in den Philippinen bis 1986, in Mittel‐ und Osteuropa 1989/90 und in Madagaskar 1991. In all diesen und weiteren Konflikten sind Hildegard und Jean Goss, teils über Jahrzehnte, am Aufbau und der solidarischen Unterstützung gewaltfreier Bewegungen maßgeblich beteiligt.
Von historischer Bedeutung ist ihr Einsatz seit 1984 zur Überwindung der Marcos-Diktatur in den Philippinen: Erstmals in der Geschichte wird durch systematische Vorbereitung und Schulung in Haltung und Methoden der gewaltfreien Befreiung 1986 mit der „Rosenkranzrevolution“ eine brutale Diktatur beendet.
In ungezählten Fällen bemüht sich das Ehepaar um Gerechtigkeit, Menschenrechte, Frieden und Versöhnung auf der praktischen Ebene der Konfliktlösung und der Verbesserung von Lebensumständen gerade auch in kleinen, lokalen Gemeinschaften.

Die Frauen von Medellín
Ein Beispiel für das Engagement in lokalen Gemeinschaften, über das Hildegard Goss-Mayr gerne berichtet, sind die Frauen von Medellín. Es steht exemplarisch und grundlegend für den Aufbau gewaltloser Befreiungsbewegungen. Die Frauen von Medellín lebten in einem Elendsviertel, die ca. 30.000 Einwohner*innen waren vom Land zugezogen. Weit entfernt vom modernen Zentrum der kolumbianischen Großstadt waren sehr viele Menschen arbeitslos. Es fehlte jeglicher Wasser- und Stromanschluss. Die Kindersterblichkeit war sehr hoch. Hildegard Goss-Mayr und ihr Mann unterstützten einen Priester, der in dem Elendsviertel versuchte, Basisgemeinden aufzubauen. Sie bezogen sich auf die Bibel, um ein Bewusstsein für die Würde des Menschen, auch des armen Menschen, zu vermitteln und um zu verdeutlichen, dass der Ausbruch aus Angst, Unterwürfigkeit und Elend nur aus der Selbstbefreiung zu erreichen ist. Unrecht kann überwunden werden, aber nicht mit neuem Unrecht, sondern aus Engagement für Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe.
Bald schon bildete sich eine Gruppe engagierter Frauen, die den Mangel an sauberem Trinkwasser als größtes Unrecht identifizierte, von dem das Viertel betroffen war. Bei der Analyse der Unrechtssituation unterstützen Hildegard Goss-Mayr und ihr Mann. Dazu gehört die Identifikation von sozialen Gruppen, die dieses Unrecht stützten, sowie von Gruppen, die sich mit den Frauen solidarisieren könnten.

„Solidarisierung ist immer möglich!“
Die Frauen von Medellín entwickeln unter Hildegards Anleitung einen Plan. Sie gehen in zehn Gruppen ins reiche Stadtzentrum und nehmen ihre kleinsten Kinder mit. Auf dem Hauptplatz steht ein großer Brunnen und der Wind verteilt das Wasser über den Platz. Dabei bilden sich kleine Pfützen. Die erste Gruppe Frauen beginnt, ihre Kinder vor den Augen der flanierenden Passanten in diesen Pfützen zu waschen. Das führt schnell zu Entsetzen bei mehreren reichen Frauen, die vorbeikommen: Die Kinder sterben durch das schmutzige Wasser! So kommen sie mit den Frauen aus dem Elendsviertel ins Gespräch. Diese erzählen von ihrer Notlage. Die Polizei kommt. Sie verscheucht die Frauen mit ihren Kindern. Nach kurzer Zeit kommt die zweite Gruppe auf den Platz und beginnt, die Kleinen in den Pfützen zu waschen und weiter mit den Passanten zu sprechen. Die Polizei will sie nicht dulden. Schließlich geht sie mit Knüppeln auf eine der Frauen los. Da stellt sich eine wohlhabende Frau dazwischen und spricht mit dem Polizisten, so dass dieser aufhört.
Jean Goss betont immer wieder: „Solidarisierung ist immer möglich!“ Grundlage ist das Vertrauen darauf, dass auch die anderen direkt oder indirekt Beteiligten fähig sind, umzudenken und sich für Gutes zu entscheiden. Darum wird nicht gegen sie gearbeitet, sondern so mit ihnen kommuniziert, dass sie sich eingeladen fühlen mitzuwirken am Abbau des Unrechts. Dem entspricht der philippinische Ausdruck für gewaltfreie Aktion: „Würde anbieten“.
Aufbau der Schulungen und Seminare in Gewaltfreiheit
In Medellín entsteht auf diese Weise ein solidarisches Bündnis zwischen den Müttern aus den Elendsvierteln und Frauen aus dem reichen Stadtzentrum. Gemeinsam können sie die Stadtverwaltung überzeugen, das Material für die Wasserversorgung zu finanzieren und auf Bitten ihrer Frauen übernehmen die Männer aus dem Viertel die Bauarbeiten. Nach wenigen Monaten fließt im Elendsviertel das Trinkwasser.
Hildegard Goss-Mayr schildert diese Ereignisse in einem Video. Schlüssel zur Ermächtigung der Frauen von Medellín sind ihre Schulungen mit typischerweise folgendem Ablauf:
- Analyse: die Wahrheit der Situation erheben (siehe Bild des Dreiecks oben);
- Überlegung: Was können wir tun? Dabei werden die Optionen und ihre Konsequenzen durchgespielt: nichts, Gegengewalt oder gewaltfreies Vorgehen;
- Kulturelle Verwurzelung der Gewaltfreiheit (in Lateinamerika v.a. der biblische Zugang);
- In Gruppenarbeit Konfliktbeispiele analysieren;
- In Gruppenarbeit Beispiele gewaltfreier Konflikttransformation analysieren;
- Rollenspiele;
- Gemeinsam Schritte für die aktuelle Situation festlegen
Beide, Hildegard und Jean, verbinden mit ihrem weltweiten Einsatz stets die Hoffnung, die Kirche zu erneuern. Sie und ihre Gruppe erreichen während des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965), dass das Thema Frieden auf die Tagesordnung kommt und Kriegsdienstverweigerung als christliches Zeugnis anerkannt wird. Hildegard Goss-Mayr erstellt zusammen mit den Theologen Yves Congar, Bernhard Häring und Karl Rahner Vorschläge zur Gewaltlosigkeit, die in dem zentralen Konzilsdokument „Gaudium et spes“ Niederschlag finden.
Ihre Lebenserfahrungen hält sie in der Autobiographie „Wie Feinde Freunde werden. Mein Leben mit Jean Goss für Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit und Versöhnung“ fest. Sie erhält zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, mehrmals wird sie für den Friedensnobelpreis nominiert und 1991 mit dem Niwano-Friedenspreis ausgezeichnet.
Jahrzehntelang formt sie den Internationalen Versöhnungsbund als Ehrenpräsidentin mit. Sie lebt mit jetzt 95 Jahren in Wien.
[1] Perus ist ein Ort im Norden des Kreisgebietes von São Paulo. 1960 hatte es 7.000 Einwohner*innen, inzwischen etwa 88.000. Einer der größten Arbeitgeber war die Zementfabrik Brazilian Portland. Zwischen 1962 und 1969 organisierten die Arbeiter*innen dort einen Streik und andere gewaltfreie Aktionen, um für bessere Arbeitsbedingungen einzutreten. In jener Zeit fand die Verhaftung von Goss-Mayr, Perez-Esquivel und Mario statt.
Literatur: Von Hildegard Goss-Mayr
- Die Macht der Gewaltlosen. Der Christ und die Revolution am Beispiel Brasiliens.
Graz/Wien/Köln: Verlag Styria,1968. - Revolution ohne Gewalt ? Christen aus Ost und West im Gespräch. (Hrsg. zusammen mit Jean Goss:) Wien: Sensen-Verlag, 1968.
- Der Mensch vor dem Unrecht. Spiritualität und Praxis gewaltloser Befreiung. Wien: Europaverlag, 1976, ISBN 3-203-50597-5
- Die Gewaltlosigkeit Jesu, Antwort auf die Gewalt unserer Zeit. Linz: Veritas, 1978, ISBN 3-85329-188-0
- Geschenk der Armen an die Reichen. Zeugnisse aus dem gewaltfreien Kampf der erneuerten Kirche in Lateinamerika. (Hrsg.) Wien/München/Zürich: Europa-Verlag, 1979, ISBN 3-203-50707-2
- Die Gewaltlosigkeit Jesu – eine Kraft, die Frieden schafft. Schriftenreihe des Jugendhauses Düsseldorf (zusammen mit Jean Goss:) Hrsg. Bund der Deutschen Katholischen Jugend, Düsseldorf, 1983
- Evangelium und Ringen um den Frieden. Versöhnungsbund, 1995, ISBN 3-9804408-0-X
- Wie Feinde Freunde werden. Mein Leben mit Jean Goss für Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit und Versöhnung. Mit einem Geleitwort von Kardinal Franz König. Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1996, ISBN 3-451-23930-2; 2. überarbeitete Auflage: Idstein: Meinhardt Text und Design,1998, ISBN 3-933325-08-0
- Jean Goss. Mystiker und Zeuge der Gewaltfreiheit. (zusammen mit Jo Hanssens) Aus dem Französischen übersetzt von Hildegard Goss-Mayr und Lieselotte Wohlgenannt. Mit einem Vorwort des Friedensnobelpreisträgers Adolfo Perez Esquivel. Ostfildern: Patmos-Verlag, 2012, ISBN 978-3-8436-0172-6
Literatur: Über Hildegard Goss-Mayr:
- Deats, Richard: Marked for Life. The Story of Hildegard Goss-Mayr. Foreword by Mairead Corrigan Maguire. New York: City Press, 2009, ISBN 978-1-56548-309-5
- Martin Arnold: Gütekraft – Hildegard Goss-Mayrs christliche Gewaltfreiheit. Overath: Verlag Bücken & Sulzer, 2011. 149 Seiten, ISBN 978-3-936405-65-1.
Zum Autor
Martin Arnold ist Redakteur der gewaltfreieaktion.de.