Gewaltfreie Revolution in Deutschland 1989: Wie die Friedensgebete ihr das Tor öffneten, zum Beispiel in Leipzig, Teil 4

Der Autor analysiert in einem vierteiligen Essay - im Lichte der Forschung zur Wirkung der Gütekraft - die Rolle der Friedensgebete während der gewaltfreie Revolution in der DDR. In Teil 4 zeigt er die zentrale Rolle des Appells zur Gewaltlosigkeit auf das Handeln der Machthaber und fasst seine Analyse der Vorgänge zusammen.
Hier ist das Titelbild zu sehen. Es zeigt Teilnehmende an einer der Montagsdemonstrationen in Leipzig im Oktober 1989
Montagsdemonstration in Leipzig, Oktober 1989 (Foto: Friedrich Gahlbeck, Bundesarchiv, Bild 183-1989-1023-022, CC-BY-SA 3.0)

von Martin Arnold

Die Teile 1 und 2 zeigten, wie gewaltfreies Vorgehen zu politischem Erfolg führen kann, was bis zum am 9. Oktober 1989 geschah sowie die dramatischen Ereignisse an diesem Tag der Entscheidung.

In Teil 3 wurden diese Fakten mit den drei Haupt-Wirkungselementen der Gütekraft in Beziehung gebracht.

Teil 4 zeigt die zentrale Rolle des bei der Demonstration am 9. Oktober in 25.000 Exemplaren verteilten Appells zur Gewaltlosigkeit und eine Einschätzung der ganzen Vorgänge.

Als gesamter Text mit allen vier Teilen ist der Artikel hier zu lesen.

Wie „Keine Gewalt!“ wirkte

Hier ist ein Bild zu sehen. Es zeigt ein Flugblatt „Appell“, das zu Gewaltfreiheit aufruft.
Appell zur Gewaltlosigkeit, Leipzig, 09.10.1989, Foto: Christoph Wonneberger; Creative Commons 4.0

Die Aufforderung „Keine Gewalt!“, die drei kirchliche Arbeitskreise zu den Themen Gerechtigkeit, Menschenrechte und Umweltschutz gemeinsam verfasst hatten (s. Bild), hatte, besonders am 9. Oktober, für die beteiligten Gruppen mehrere Bedeutungen, die sich allerdings überschnitten. Für Christ*innen drückte sie die Orientierung am gewaltfreien Jesus aus, der im Vertrauen auf Gott als verbindliches Vorbild angesehen wurde.

Für die Demonstrierenden war Gewaltlosigkeit auch ein Gebot taktischer Klugheit, weil Angriffe z.B. gegen ‚Sicherheitskräfte’ staatlichen Gewalteinsatz legitimiert hätten.

Bei Angehörigen der ‚Sicherheitskräfte‘ aller Dienstgrade appellierte die Aufforderung an ihr Gewissen, ggf. bestimmten Einsatzbefehlen nicht Folge zu leisten.

Aufruf der Sechs

Für die politische Führung war „Keine Gewalt!“ die Aufforderung, politischen Dialog zuzulassen, statt die Kritiker*innen brutal mundtot zu machen. Einige Funktionäre hatten sich bereits dafür entschieden. Ihre Bereitschaft und ihre Aufforderung zum Dialog bedeuteten natürlich Verzicht auf staatliche Gewalt gegen die Dialogpartner*innen.

So nahm der „Aufruf der Sechs“ (verfasst von Kurt Masur, Bernd-Lutz Lange, einem Theologieprofessor und drei Leipziger SED-Funktionären) das auf, was an der Basis, in der Moskauer Glasnost-Politik sowie am Runden Tisch der polnischen Staatsführung mit der Solidarność-Bewegung bereits Konsens war: Mit ihrem Aufruf kündigten die Sechs dem Missstand ‚totalitärer Staat‘ die Zusammenarbeit auf.

Mit dem „Aufruf der Sechs“ war der Impuls offensichtlich auf der Leipziger SED-Führungsebene angekommen. Er legte die Axt an die Wurzel des sozialistisch-kommunistischen Selbstverständnisses, denn er plädierte für Dialog und forderte somit dazu heraus, als Partei den Anspruch auf alleinigen Wahrheitsbesitz aufzugeben – entgegen dem jahrzehntelang landesweit propagierten Liedslogan „Die Partei, die Partei, die hat immer Recht“.

Mit dem Wahrheitsbesitz wurde zugleich die Rechtfertigung für den – notfalls mit Waffen durchzusetzenden – Totalitätsanspruch infrage gestellt. Weil er dem Dialog im Wege stand, erkannten diesen nun auch immer mehr Führungskader als Missstand. Daher trafen die Forderungen nach Dialog und Gewaltlosigkeit den Missstand Totalitätsanspruch und die Parteiführung an zentraler Stelle.

Die herrschenden Kreise in Leipzig wurden tief verunsichert, ohne dass die Unzufriedenen planmäßig darauf hingearbeitet hatten. Die Strahlkraft der Friedensgebete wirkte. Am 9. Oktober waren ihr auch die tausend Funktionäre in St. Nikolai ausgesetzt. Die montäglichen Erlebnisse von Gesprächen und Gebeten bewirkten zunächst gute Erfahrungen und die Überzeugung von der Richtigkeit des Dialogs. Darüber hinaus förderten sie auch die innere Bereitschaft und lockten zum Gespräch. Damit wuchs der tragende Grund für den Verzicht auf Gewalt gegen Andersdenkende. Die Glasnost-Signale und das Fehlen von Rückendeckung für den Einsatz von ‚Sicherheitskräften‘ aus Moskau verstärkten ihn. Wahrheits- und Totalitätsanspruch der SED traten nun unabweisbar auch öffentlich als Missstand zutage.

In der DDR waren die Zweifel an der Rechtmäßigkeit staatlicher Zwangsmaßnahmen bereits bis weit in die Führungsriege des Staates gedrungen. Angesichts der Massen friedlich Demonstrierender nahm darum der Wille zur gewaltsamen Durchsetzung der Staatsraison auch bei der Führung rapide ab und schwand schließlich ganz. Darum waren Schießbefehlsverweigerung oder Meuterei von ‚Sicherheitskräften‘ nicht mehr nötig.

Eine Inspiration aus Leipzig

Die Botschaft von Leipzig elektrisierte das Land. Die DDR war durch die vielen Friedensgebete, durch „Sputnik“ und Glasnost sowie aus wirtschaftlichen und politischen Gründen bereit für die revolutionäre Botschaft: „Der Wahrheits- und Totalitätsanspruch der Partei ist nicht aufrechtzuerhalten.“ Diese Botschaft, die mehr oder weniger ausdrücklich als gemeinsamer Kern in den vielen Aktivitäten enthalten war, inspirierte, von Leipzig ausgehend, die empfangsbereite Bevölkerung.

Nahezu im ganzen Land wurde sie an den folgenden Montagen durch Demonstrationen hunderttausendfach verstärkt. Unausweichlich erreichte sie auch sämtliche Führungsebenen. Was bedeutete dies für diejenigen, die vor allem aus jenem Wahrheitsanspruch ihr Selbstverständnis und ihren Auftrag als Regierende herleiteten? Die Geschehnisse belegen eindrücklich die große, ansteckende Kraft des Selbst-Beginnens, die schließlich zu massenhafter Nichtzusammenarbeit führte. Überall im Land fanden in neu gebildeten Gruppen politische Dialoge statt.

Die Botschaft von der Notwendigkeit des Dialogs wurde selbst von politischen Freund*innen der im alten Selbstverständnis Regierenden vertreten. Sie wurden davon mit einer solchen Wucht verunsichert, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sie abtraten.

Zur Bedeutung der gütekräftigen Revolution in Deutschland 1989

Aus folgenden Gründen ist das geschilderte Geschehen, diese gütekräftige Revolution, für uns heute überaus bedeutsam.

  • Historisch für Deutsche: Die Friedliche Revolution ist für uns Deutsche besonders wichtig, weil sie Teil unserer eigenen Geschichte ist. Der erste Schritt zu bewusstem gütekräftigem Handeln ist, die Gütekraft im Eigenen zu entdecken, sie in der eigenen Geschichte und damit als eigene Möglichkeit zu erkennen. Wir haben in Deutschland eine Reihe guter Erfahrungen mit gewaltfrei-gütekräftigem Vorgehen gemacht, auch vor und unter der Naziherrschaft und danach, z.B. beim Ausstieg aus der Atomenergie.
  • Ein vielversprechender Weg zu mehr Menschlichkeit: Aufgrund der Gütekraft-Potenz spüren alle zumindest unbewusst, dass der Einsatz für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit zu unserem Leben gehört, und sind deshalb grundsätzlich bereit, sich zum Gutes-Tun, d.h. zum Einsatz für diese Werte, anstecken zu lassen – soweit die Grundannahme der Gütekraft.
    Darum ist möglich, was Paulus von Tarsus empfiehlt: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde Böses mit Gutem“: Das Gute ruft im Gegenüber ein Mitschwingen hervor und kann daher, wenn dies stark genug ist, dessen (‚böse‘) Schädigungsimpulse unwirksam machen. Auch der Koran kennt diese Wirklichkeit und formuliert sie in Sure 41,35 ausdrücklicher: „Gutes und Böses ist nicht einerlei; darum wende das Böse durch Gutes ab, dann wird selbst dein Feind dir zum echten Freund werden.“ Dies bezieht sich nicht allein auf persönliche Freundschaften, sondern heißt auch: Menschen, die zuvor ein ungerechtes System unterstützten, können zu Mitstreitern für Gerechtigkeit werden. Die Empfehlungen von Paulus und im Koran sind nicht nur im Konflikt auf der Mikroebene, also zwischen Einzelpersonen, von Bedeutung, sondern auch in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Alle anderen an einem Missstand Beteiligten von vornherein als potenzielle Mitstreiter*innen anzusehen, ihnen beharrlich mit dieser Haltung zu begegnen und sie durch eigenes Vorangehen zum Gutes-Tun herauszufordern, bietet gute Chancen, viele zur Mitarbeit an der Überwindung von Unmenschlichkeit, Unterdrückung oder Unrecht zu gewinnen. Wer sich in dieser Weise engagiert, darf von vornherein mit der potenziellen Zustimmung vieler rechnen.
  • Ungerechte Strukturen können gewaltfrei verändert werden: Wenn viele sich anstecken lassen, können mit diesem Vorgehen gesellschaftliche und politische Strukturen geändert werden. Dies geschieht – geplant oder ungeplant – dadurch, dass immer mehr der Personen, die eine ungerechte Struktur aufrechterhalten, zur Nichtzusammenarbeit übergehen, bis die Struktur schließlich nicht mehr hinreichend gestützt wird und zusammenbricht. Verstößt gewaltfrei-gütekräftige Nichtzusammenarbeit gegen geltende gesetzliche Vorschriften, so wird sie ziviler Ungehorsam genannt. Solche Aktivitäten spielten 1989 in der DDR keine wesentliche Rolle, weil kirchliche Aktivitäten in kirchlichen Räumen legal waren. Deshalb konnte an diesen Orten die Untergrabung des staatlichen Totalitätsanspruchs bis zur mutigen Stabilisierung dieses Handelns vorankommen.

Die Diktatur in der DDR wurde 1989 überwunden, weil wesentlichen Unterstützer*innen, seien es ‚Sicherheitskräfte‘ oder führende Politiker*innen, die totalitäre Herrschaft nicht mehr legitim erschien und sie deshalb den Gehorsam aufkündigten. Dieses Beispiel zeigt wie viele andere: Gütekräftiges Vorgehen ermöglicht gewaltfreie Systemüberwindung.

Zum Autor

Dr. Martin Arnold ist Friedensforscher in Essen, siehe https://martin-arnold.eu und Redakteur der gewaltfreien aktion.

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