Gewaltfreie Revolution in Deutschland 1989: Wie die Friedensgebete ihr das Tor öffneten, zum Beispiel in Leipzig, Teil 2

Der Autor analysiert in einem vierteiligen Essay - im Lichte der Forschung zur Wirkung der Gütekraft - die Rolle der Friedensgebete während der gewaltfreie Revolution in der DDR. In Teil 2 beleuchtet er die Ereignisse am 9. Oktober 1989 in Leipzig.
Hier ist das Titelbild zu sehen. Es zeigt Teilnehmende an einer der Montagsdemonstrationen in Leipzig im Oktober 1989
Montagsdemonstration in Leipzig, Oktober 1989 (Foto: Friedrich Gahlbeck, Bundesarchiv, Bild 183-1989-1023-022, CC-BY-SA 3.0)

von Martin Arnold

In  Teil 1 des vierteiligen Artikels beschrieb unser Autor, wie gewaltfreies Vorgehen zu politischem Erfolg führen kann und was bis zum Oktober 1989 geschah.

Im zweiten Teil analysiert er nun die höchst dramatischen Geschehnisse des 9. Oktober 1989. An diesem Tag, an dem sich zeigte, wie stark Hoffnung und Mut bei vielen Betroffenen gediehen waren, fiel eine Entscheidung mit historischen Folgen.

Als gesamter Text mit allen vier Teilen ist der Artikel hier zu lesen.

Die Ereignisse am 9. Oktober

Am 7. Oktober hatte die DDR-Führung das 40jährige Bestehen des Staates gefeiert. Dabei hatte sie wie bereits an einigen Montagen zuvor Skrupellosigkeit demonstriert, indem sie nicht nur auf Demonstrierende, sondern auch auf Passanten, die zufällig vor der Nikolaikirche vorbeigingen, einprügeln und einige von ihnen hatte einsperren lassen – offensichtlich zur Einschüchterung.

Denn seit einiger Zeit versammelten sich vor der Kirche in Leipzig regelmäßig nach dem Gebet immer mehr Menschen, diskutierten und demonstrierten öffentlich. Am 9. Oktober sollte „dem Spuk ein Ende bereitet werden“ – so die Anweisung des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker.

Wenige Monate zuvor hatte die Pekinger Führung auf dem Platz des Himmlischen Friedens die für Freiheit demonstrierenden Massen grausam umbringen lassen und die DDR-Regierung hatte ihre Zustimmung erklärt.

Nun wurden in Leipzig Polizei, Soldaten und Betriebskampfgruppen aufgestellt, 8.000 Bewaffnete standen bereit. Große Mengen Blutkonserven wurden in Leipziger Krankenhäusern bereitgehalten. Betriebe, Kindergärten und Schulen mussten früher als sonst schließen. Die Bevölkerung wurde davor gewarnt, am Nachmittag auf die Straße zu gehen. Die Kirche, ja die ganze Stadt standen unter starkem Druck.

In dieser Situation geschürter Angst und äußerster Anspannung behielten viele Menschen das Vertrauen in die Zukunft und den Mut, die in den Gesprächen und Gebeten gewachsen waren. Den offenen Dialog zu führen, diesen in der Öffentlichkeit zu fordern und gleichzeitig Gewalt ausdrücklich abzulehnen, hatte Tausende inspiriert. Eltern, die trotz der Massenmord-Drohungen am Friedensgebet teilnahmen, trafen Vorkehrungen für den Fall, dass sie nicht wieder nach Hause kommen würden, : Sie regelten, wer dann für ihre Kinder sorgen würde.

Die Nikolaikirche fasste schon vor dem 9. Oktober die Massen nicht mehr. Daher wurde gleichzeitig auch in anderen Kirchen für Frieden gebetet.

Um am Entscheidungstag wirklich Interessierten möglichst wenig Platz zu lassen, kamen Stunden vor Beginn tausend Funktionäre der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in die Nikolaikirche.

Christian Führer bezeichnete dies „als einen besonders humorvollen Schachzug Gottes“. Denn auch die Funktionäre hörten nun die gütekräftige Botschaft der Friedensgebete von der Gewaltfreiheit – und auch sie hielten sich hinterher an die Bitte „Nehmt die Gewaltlosigkeit aus der Kirche mit hinaus auf die Straßen und Plätze!“ Denn, so formulierte es Christian Führer: „Straße und Kirche gehören zusammen!“

In den Kirchen war die Atmosphäre christlich-gütekräftig. In den Kirchen und im Rundfunk wurde der „Aufruf der Sechs“ verlesen. Es war ein Aufruf sechs angesehener Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, u.a. des Leiters des Gewandhausorchesters, Kurt Masur und des Kabarettisten Bernd-Lutz Lange sowie dreier SED-Sekretäre, die sich – wie vorher nur die Protestierenden – nun auch für den Dialog mit der Staatsführung einsetzten. Sie sympathisierten offensichtlich mit den Demonstrierenden.

Nach dem Gebet strömten insgesamt 70.000 friedlich Demonstrierende, viele mit Kerzen in den Händen, auf den Leipziger Ring. Dort wurde schon Stunden zuvor ein illegal gedruckter „Appell“ zur Gewaltlosigkeit massenhaft verteilt – auch an Bewaffnete. Vereinzelte Provokationen durch Demonstrierende wurden von anderen niedergehalten.

Die politische Führung, die geglaubt hatte, sie könnte durch ihre ‚Sicherheitskräfte‘ die Sache beenden, hatte für den 9. Oktober nicht mit solchen Massen, die sich nicht einschüchtern ließen, gerechnet. Sie war „auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete.“ Fieberhafte Beratungen, auch telefonisch mit dem Innenministerium in Berlin, führten zu keiner Entscheidung. Weder Festnahmen noch der Einsatz von Schlagstöcken oder Schusswaffen wurden befohlen. Dass – anders als am 17. Juni 1953 – im Hintergrund keine sowjetischen Panzer bereitstanden, dürfte dazu beigetragen haben.

So wurde manifest: Die SED-Führungsriege war tief verunsichert. Diese Verunsicherung zeigte sich bereits vorher durch ihren Befehl an die tausend Funktionäre, ohne Uniform in die Nikolaikirche zu gehen. Denn das hatte auch zur Folge, dass die ‚Sicherheitskräfte‘, als alle die Kirche verließen, nicht ‚Freund‘ von ‚Feind‘ unterscheiden konnten. Unbekannt ist, ob auch dies ein Grund für das Ausbleiben des Schießbefehls war.

„Die Nachricht, dass die Demonstration in Leipzig friedlich verlaufen war, löste in der gesamten DDR eine kaum zu beschreibende Freude aus“, schreibt Ehrhart Neubert in seinem Buch ‚Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989‘.

In den nun folgenden Wochen versammelten sich im ganzen Land Hunderttausende in aller Öffentlichkeit, oftmals im Zusammenhang mit Friedensgebeten. Die Demonstrationen wurden vom Staat geduldet. Die Verunsicherung der Führungselite wurde schließlich so stark, dass sie praktisch handlungsunfähig wurde und der Staat zusammenbrach. Am 9. Oktober 1989 hatten damit in Leipzig 70.000 Menschen mit Gütekraft das Tor zu massenhaften Demonstrationen in der DDR und zur Überwindung der Diktatur aufgestoßen.

Wie dabei die Gütekraft im Einzelnen zur Wirkung kam, davon handelt Teil 3.

Zum Autor

Dr. Martin Arnold ist Friedensforscher in Essen, siehe https://martin-arnold.eu und zugleich Redaktionsmitglied der gewaltfreien aktion.

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