Gewaltfreie Revolution in Deutschland 1989: Wie die Friedensgebete ihr das Tor öffneten, zum Beispiel in Leipzig, Teil 3

Der Autor analysiert in einem vierteiligen Essay - im Lichte der Forschung zur Wirkung der Gütekraft - die Rolle der Friedensgebete während der gewaltfreie Revolution in der DDR. In Teil 3 setzt er die Ereignisse mit den drei Haupt-Wirkungselementen der Gütekraft in Beziehung.
Hier ist das Titelbild zu sehen. Es zeigt Teilnehmende an einer der Montagsdemonstrationen in Leipzig im Oktober 1989
Montagsdemonstration in Leipzig, Oktober 1989 (Foto: Friedrich Gahlbeck, Bundesarchiv, Bild 183-1989-1023-022, CC-BY-SA 3.0)

von Martin Arnold

Die Teile 1 und 2 zeigten, wie gewaltfreies Vorgehen zu politischem Erfolg führen kann, was bis zum am 9. Oktober 1989 geschah und schließlich die dramatischen Ereignisse an diesem Tag der Entscheidung. Wie die drei Haupt-Wirkungselemente der Gütekraft dabei zum Zuge kamen, davon handelt Teil 3.

Als gesamter Text mit allen vier Teilen ist der Artikel hier zu lesen.

Die Wirkung der Gütekraft in der DDR

Viele, die dabei waren, erlebten die Ereignisse in der DDR als Wunder, als Geschenk Gottes, als Erhörung ihrer Gebete. „Gebete ändern die Welt nicht. Aber Gebete ändern die Menschen. Und die Menschen verändern die Welt“ (Albert Schweitzer).

Dafür, wie die Gebete zur Friedlichen Revolution wesentlich beitrugen, braucht es keine übernatürliche Erklärung, etwa als direktes Eingreifen Gottes neben menschlichem Handeln. Wunder sind zwar nicht erzwingbar – sie sind und bleiben Wunder – sie können aber durch menschliches Handeln wahrscheinlicher werden. Das gilt für das Handeln religiöser wie nicht religiöser Menschen.

Der nicht religiöse Michail Gorbatschow wurde in der DDR mit dem Nichtjuden Kyros verglichen, der 539 v.Chr. das jüdische Volk aus der Verbannung zurückkehren ließ – nach biblischer Aussage handelte er so im Dienste Gottes. Auch das Auftreten Gorbatschows wurde als Wunder gesehen. Gutes Tun ist eine Möglichkeit aller Menschen, die Kraft zum Guten, Gütekraft steckt in uns allen. Sie kann als Gottes Kraft, als Kraft des Heiligen Geistes gesehen werden. In der Bibel heißt es: der Geist „weht, wo er will“, und auch gütekräftiges Vorgehen darf nicht mechanistisch missverstanden werden.

Es gibt – ebenso wenig wie bei anderen Vorgehensweisen – keine Erfolgsgarantie.

Beten ist allgemein bei gütekräftigem Vorgehen nicht erforderlich. Allerdings hat die Beziehung zu Gott vielen Menschen wichtigen Halt gegeben. Beten kann förderlich sein.

Der soziale Missstand der Diktatur und gesellschaftlicher Wandel

In der ‚Diktatur des Proletariats‘ war der totalitäre Anspruch des Staates der Hintergrund für die Unterdrückung freier Meinungsäußerungen und für die Ausgrenzung Ausreisewilliger. Der staatliche Totalitätsanspruch war, viele sahen das deutlich, der eigentliche Missstand.

Unter ihm litten große Teile der Bevölkerung mehr oder weniger, sicherlich auch Mitglieder der SED, von denen viele aus beruflichen Gründen und nicht aus Überzeugung eingetreten waren, sowie diejenigen, die in ihrer Auffassung von Kommunismus von der offiziellen Linie abwichen und ‚immanente Kritik‘ übten.

Allgemein verhinderte dieser Totalitätsanspruch der DDR-Politik den freien Dialog über Politik und Gesellschaft. Christ*innen bestritten die Berechtigung dieses Anspruchs. Die Kirche stellte einen Raum für freie Begegnungen und unzensiertes Gespräch zur Verfügung. Dadurch begann sie im eigenen Einflussbereich damit, den Missstand an Ort und Stelle abzubauen und eine andere Art des gesellschaftlichen Miteinanders vorzuleben. Durch die Friedensgebete geschah dies quasi-öffentlich in einem gewissen Schutzraum. Dieser konnte auch gegen massive Angriffe des Staates erhalten werden und der Dialog wurde fortgesetzt.

Die Wirkungsweisen gütekräftigen Vorgehens

  • Gütekräftiges Wirken: Selbstbeginnen.

Die angestrebte Veränderung wird in dem Maß, wie es mit den eigenen Kräften möglich ist, ansatzweise bereits verwirklicht und der Abbau des Missstandes beginntbereits. Das eigene Tun, auch wenn es nur wenig ändern kann, hat Wirkung. Es zeugt von innerer Stärke und ist viel kraftvoller, als einfach nur Forderungen an andere zu richten. Es kennzeichnet die erste Wirkungsweise des gütekräftigen Vorgehens.

Zunächst nutzten diejenigen den kirchlichen Raum, die aus ihrem Nicht-Einverstanden-Sein mit der öffentlichen Ordnung schon persönliche, riskante Folgerungen gezogen hatten: vor allem protestierende Jugendliche und Ausreiseantragsteller*innen.

Das freie Gespräch und für viele die Beziehung zu Gott verschafften ihnen eine persönliche mentale Entlastung von dem Druck, unter dem sie zwar ununterbrochen standen, und eröffneten ihnen einen neuen Lebensraum. Das Selbstbeginnen bestand also darin, Räume für den offenen Dialog zu suchen, zu schaffen und die Institution der Friedensgebiete zu gründen – und für die Hinzukommenden, diese auch zu nutzen.

Nach einiger Zeit kamen mehr Unzufriedene zu den Friedensgebeten. Und schon bald wurden auch Menschen, die noch nicht persönliche Konsequenzen aus dem Leiden am Missstand gezogen hatten, durch die Vorangehenden zur montäglichen Teilnahme angeregt. Das Selbst-Beginnen im neuen, freieren Lebensraum wirkte ansteckend.

  • Gütekräftiges Wirken: Resonanz, Anstecken anderer

Nicht nur die anfangs Engagierten, sondern auch andere Personen ändern ihr Handeln.
Gütekraft ist eine Möglichkeit für jeden Menschen. Alle können Gutes tun. Ebenso wie wir alle wohlwollend und gerecht behandelt werden wollen, haben wir alle bewusst oder unbewusst die Neigung, anderen mit Wohlwollen und Gerechtigkeit zu begegnen. Diese Neigung kommt aus der elementaren Verbundenheit aller. Neurolog*innen zeigen, dass wir Verbundenheit bereits vor der Geburt erfahren und als positive Grunderfahrung mit auf die Welt bringen. Die Neigung zu helfen ist angeboren. Sie ist schon bei Kleinkindern und auch bei Schimpansen zu beobachten, wie der Verhaltensforscher Michael Tomasello herausfand.

Wenn dieses Potenzial das Handeln aktuell nicht bestimmt, kann es geweckt werden – bei allen Menschen. Die oben erwähnten Grundsätze der Friedensgebete zu beachten ist typisch nicht nur für den christlichen Umgang mit Problemen, sondern auch allgemein für gütekräftiges Handeln. Je klarer danach gehandelt wird, desto größer ist die Aussicht auf Ansteckung, auf eine positive Wirkung.

Diese Resonanz kommt zum Beispiel zustande, wenn es gelingt, an einem Missstand Beteiligte in ihrem Gewissen anzusprechen, oder wenn andere Gründe diese Personen innehalten lassen. Dies ist häufig dann der Fall, wenn sie wahrnehmen, wie sich Menschen aktiv für Verbesserungen einsetzen und mit dem Abbau eines Missstandes beginnen, besonders dann, wenn dieses Handeln mit persönlichen Kosten oder Risiken verbunden ist und daher persönlich beeindruckt. Solche Taten bringen die Gütekraft-Potenz in den beobachtenden Personen zum Mitschwingen, sie regen sie so zu eigenem Tun an, sie ‚stecken an‘. Ob diese Anregung zur Tat führt, hängt dann jeweils von weiteren Umständen ab.  Das gütekräftige Vorgehen erzeugt bei den am Missstand Beteiligten, auch unter den Führungspersonen, die den Missstand stützen, durch das Mitschwingen Zweifel und Widersprüche. Dies kann bei einigen zur Verhärtung führen.

In der Regel bewirken die Zweifel in der Führungsgruppe jedoch verschiedene Ansichten über den Umgang mit den gewaltfrei-gütekräftig Aktiven und ihren Anliegen. Die Spaltung der Führung hilft dabei Veränderungen zu ermöglichen. Damit diese wahrscheinlich werden, ist es wichtig, dass die Engagierten denjenigen, die den Missstand stützen, mit wohlwollender Haltung begegnen und gleichzeitig auf Gerechtigkeit bestehen. Es ist ein wohlwollend-gerechtes Streiten. Auch Menschen, die den Missstand direkt stützen, können dadurch angeregt werden, ihr Handeln zu ändern.

In Leipzig hatten seit Jahren Pfarrer und weitere kirchenleitende Personen mit staatlichen oder Partei-Stellen wohlwollend-gerecht gestritten. Und dies geschah auch bei den montäglichen Friedensgebeten in der Kirche und den Diskussionen und Demonstrationen draußen. Diese offenen Gespräche nach der Art wohlwollend-gerechten Streitens und das gütekräftig gestaltete Gebet erwiesen sich als wirksame Medien, andere anzustecken aktiv zu werden und den Missstand abzubauen. Dem lag jedoch kein Plan zugrunde. Das kirchliche Handeln ergab sich von selbst aus dem kirchlichen Selbstverständnis, das in den Ökumenischen Versammlungen weiterentwickelt wurde. Mit der Zeit trugen die Demonstrationen und die vorbereiteten Beiträge für das Westfernsehen, durch die die Vorgänge in der DDR weit bekannt wurden, zusätzlich zur ansteckenden Weitergabe der Impulse bei.

Neben den Friedensgebeten, den Demonstrationen und den Beiträgen für das Westfernsehen spielte die Glasnost-Politik eine wichtige Rolle, indem sie das Volk in ihrem Tun ermutigte. Das Gefühl, das sich etwas veränderte, wirkte ansteckend. Weltweit und auch innerhalb der DDR war Michail Gorbatschows Reform-Politik, die auf Offenheit, Transparenz und Öffentlichkeit setzte, weithin bekannt. Die deutsche Ausgabe der sowjetischen Zeitschrift „Sputnik“ berichtete davon in beiden deutschen Staaten. Da dies der herrschenden SED-Parteilinie widersprach, wurde „Sputnik“ in der DDR verboten. Dies machte Glasnost noch populärer und die sich neu entfaltende Öffentlichkeit konnte sich auf Glasnost berufen. Außer bei den Friedensgebeten entstanden so mehr und mehr Orte und Gruppen des offenen Gesprächs über gesellschaftliche und politische Fragen. Frei und offen miteinander zu sprechen hieß, sich dem Totalitätsanspruch des Staates nicht länger zu unterwerfen: Es war ein Akt der Nichtzusammenarbeit.

  • Gütekräftiges Wirken: Nichtzusammenarbeit mit dem Missstand. Sie entzieht dem Missstand die Stützen.

Dem Missstand die Zusammenarbeit zu verweigern heißt, diesem Mittel zu entziehen, die ihn stützen. Wenn ihm die wesentlichen Stützen entzogen sind, kippt er.

Oftmals stützen wir auch selbst ungewollt Missstände, indem wir z.B. nichts dagegen tun oder Vorteile davon nutzen. Wir meinen dann oft, unsere eigenen Beiträge seien so minimal, dass sie nicht ins Gewicht fallen. Aber „Dein Trilliardstel zählt!“ (Ruth Cohn)

Wegen möglicher Resonanz (siehe oben!) kann der demonstrative Entzug der Zusammenarbeit weitreichende Folgen haben. Ein Beispiel ist Greta Thunberg. Durch ihren einsamen, beharrlichen Zivilen Ungehorsam entstand die weltweite Fridays for Future-Bewegung. Diese brachte in vielen Ländern die Notwendigkeit von Klima-Maßnahmen auf die politische Tagesordnung.

Gewaltfrei-gütekräftiges Vorgehen besteht bei größeren Missständen wesentlich darin, unter denen, die den Missstand aufrechterhalten, Kritik und Widerspruch dagegen zu wecken und zu verstärken, und darauf systematisch hinzuarbeiten. Dazu kann die tätige Aufkündigung der Zusammenarbeit ein wesentlicher Schritt sein. Sie kann auch dazu führen, dass die Hauptverantwortlichen für den Missstand diesen nicht mehr aufrechterhalten können. Klassische Formen massenhafter Nichtzusammenarbeit sind Streik, Boykott und Embargo.

Kirchen und andere Gruppen, die für Nichtzusammenarbeit in Form des freien Dialogs Raum boten, stützten nicht nur das System nicht mehr, sondern untergruben den Totalitätsanspruch des Staates, der im Monopol der Partei auf die Wahrheit wurzelte. Durch die Nichtzusammenarbeit mit der Gewalt der ‚Diktatur des Proletariats‘ wurde eine Kraft wirksam, welche ansatzweise bereits Institutionen der besseren Gesellschaftsordnung schuf und auch unter den Führungspersonen der DDR Widersprüche hervorrief.

Dabei spielte der bei der Demonstration am 9. Oktober in 25.000 Exemplaren verteilte Appell zur Gewaltlosigkeit eine zentrale Rolle.

Davon und mehr in Teil 4.

Über den Autor

Dr. Martin Arnold ist Friedensforscher in Essen, siehe https://martin-arnold.eu und zugleich Redaktionsmitglied der gewaltfreien aktion.

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