Eine vierteilige Reportage von Stephan Brües
Vom 4. bis 12. Mai 2024 nahm ich an einer Delegationsreise der us-amerikanisch-kanadischen Menschenrechtsorganisation Rights Action in Guatemala teil. Wir besuchten dabei u.a. vier Orte gewaltfreien Widerstands indigener Völker gegen Bergbauprojekte im Osten des Landes.
In dieser vierteiligen Reportage berichte ich über die Hintergründe und Widerstandsformen an den vier Orten.
Bevor ich aber mit diesen Berichten in den Teilen 2, 3 und 4 beginne, werde ich in Teil 1 die Stellung dieser Orte in der guatemaltekischen Kolonialgeschichte herausarbeiten. Außerdem ordne ich vor den Besuchsberichten die vier Orte in ihrer Bedeutung für den indigenen Widerstand im Allgemeinen und für den indigenen Widerstand gegen den Bergbau ein.
Teil 1: Indigener Widerstand und Bergbau in Guatemalas Geschichte
Seit mehr als viertausend Jahren besiedeln Maya-Völker das Gebiet des heutigen Guatemala; vor rund 500 Jahren eroberten und besiedelten Spanier Guatemala. Sie beuteten die indigene Bevölkerung auf den Ländereien der Großgrundbesitzer durch Zwangsabgaben (Kopfsteuern in Höhe von etwa einem Zwanzigstel des Jahreslohnes) oder mehr oder minder durch Zwangsarbeit aus. So ausbeuterisch gegenüber der indigenen Bevölkerung verhielten sich später auch die Nachkommen der ersten Großgrundbesitzer – selbst wenn sie Nachfahren aus Beziehungen der Eroberer mit Indigenen, also „Ladinos“ waren. In nachkolonialer Zeit beuteten im Übrigen auch deutsche Siedler die indigene Urbevölkerung Guatemalas aus, vor allem auf Kaffeeplantagen.
Ladinos riefen 1821 die Unabhängigkeit aus. In ihrer Erklärung heißt es: „Es ist notwendig, die Unabhängigkeit zu erklären, bevor es das Volk macht, denn die Konsequenzen wären furchterregend“.
Der Grund für diese Angst: Die insgesamt 22 indigenen Gruppen in Guatemala eint der Gedanke an ein gemeinschaftliches Land, das nicht verkauft werden soll. Auf ihm sollen so viel Nahrungsmittel erzeugt werden, dass die Menschen davon leben und die Überschüsse auf lokalen Märkten verkaufen können.
Die Maya-Völker sahen das Land traditionell als zu ihrer Gemeinschaft gehörend an. Kolonisator*innen genauso wie aktuell Großgrundbesitzer und Agrar- oder Bergbaukonzerne kümmerten und kümmern sich nicht um diese traditionellen Landrechte, sondern sie nahmen und nehmen sich das Land, gestützt auf das individuelle Eigentumsrecht, das den Mayas in dieser Form unbekannt war.
Landkonflikte bestehen daher seit Jahrhunderten. Sie haben durch den Widerstand gegen Bergbauprojekte wieder aktuelle Bedeutung gewonnen.
Atanasio Tsul, Widerstand in Totonicapán 1820
Es war ein Jahr vor der Unabhängigkeit Zentralamerikas im September 1821, als Atanasio Tsul (1760-1830), aus dem zahlenmäßig größten Maya-Volk, der Quiché, gemeinsam mit seiner Frau Felipa Toc, mit Lucas Akilal und María Hernández Sapón gegen die spanische Kolonialmacht und insbesondere deren Kopfsteuer aufbegehrte. Diese Kopfsteuer war in der neuen spanischen Verfassung aufgehoben worden, wurde jedoch von den Kolonialmächten in dem heutigen Verwaltungsbezirk Totonicapán wieder eingetrieben. Neben der Reform der Kopfsteuer forderten die Rebell*innen auch die Anerkennung der kollektiven Gemeindebesitzungen.
Es ging den Quiché also mehr um die Unabhängigkeit von den Ladinos als um die Unabhängigkeit des heutigen Guatemala als Staat.
Laut den heutigen traditionellen Autoritäten von Totonicapán, also jenen Anführer*innen, die dort von der Gemeinde ausgewählt worden sind, war Atanasio Tsul ursprünglich der Besitzer eines Teils des Quiché-Landes gewesen und wandelte dieses in kommunales Land um. Er forderte die Menschen auf, die Zahlung der Kopfsteuer zu verweigern. Um die Rechtsverhältnisse zu klären, veranstalteten Tsul, gekleidet wie ein spanischer Edelmann, und Lucas Akilal am 9. Juli 1820 eine Feier der neuen Verfassung (in der eine Kopfsteuer nicht vorkam) und wurden von ihren Anhänger*innen symbolisch als neue Könige einer autonomen Regierung ausgerufen, während der koloniale Bürgermeister aus Angst um sein Leben floh.
Bis zum 3. August verwalteten die beiden über die Provinz Totonicapán.
Der Historiker Aaran Pollack schreibt über den Aufstand, dass die Aktivist*innen zwar mit Steinen, Macheten und einigen Pistolen bewaffnet gewesen seien, dass jedoch Wert darauf gelegt worden sei, dass nicht die in der Kolonialverwaltung arbeitenden oder mit ihr kollaborierenden Menschen angegriffen wurden, sondern dass die aus der Sicht der Quiché ungerechte Steuerlast beendet werde. Anders gesagt: Nicht die Menschen selbst wurden bekämpft, sondern ihr ungerechtes Handeln, der Einzug der Kopfsteuer.
Als am 3. August eine Armee von 1.000 bewaffnetem Ladinos aus dem nahen Quetzaltenango nach San Miguel Totonicapán kam, um gegen den Aufstand vorzugehen, leisteten die Quiché Widerstand mit Steinen und Macheten. Einige Militärs und einige Indigene starben dabei. 42 Menschen wurden festgenommen, darunter die Anführer Tsul und Akilal.
Ganz ohne Waffen ist es damals also nicht gegangen und mehrere Menschen starben. Aber die grundsätzliche Unterscheidung zwischen den Menschen als Individuen mit dem Recht auf Leben und ihrem ungerechten Handeln, z.B. Tribut eintreiben, zeigt, dass es einen indigenen Zugang zu grundlegenden Gedanken der Gewaltfreiheit gibt. In der Sprache der Q’eqchi‘ heißt Gewaltfreiheit „Inka Tawasik“.
Wie dieser gewaltfreie Widerstand der verschiedenen Maya-Völker konkret aussieht, wird in den Teilen 2, 3 und 4 an vier Beispielen vertiefend aufgezeigt. Es geht um Landrechte und um die Zerstörung des Landes durch Bergbau; es geht um eine Sicht auf die wirtschaftliche Entwicklung, die sich vorrangig auf die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und das Privateigentum gründet und dabei im Widerspruch zu indigenen Wirtschaftsweisen steht.
Bergbauprojekte
Es gibt viele Bergbauprojekte internationaler Konzerne und ihrer guatemaltekischen Tochterfirmen in Guatemala. Die bekanntesten Firmen sind Tahoe (Escobal), Hudson Bay (El Estor), Goldcorp und Bluestone (Cerro Blanco), Radius Gold (La Puya), allesamt aus Kanada, und Kappes, Cassiday & Associates (KCA, La Puya) aus den USA.
Aus der Sicht der kanadischen Regierung bringt der Bergbau Guatemala Entwicklung; Stephen Harper, konservativer Premier von 2006-2012, sprach sogar von einem „extraktiven Ansatz der Entwicklung“, eine Vorstellung, nachdem die Ausbeutung der mineralischen Ressourcen grundsätzlich eine positive Entwicklung der Menschen mit sich bringt.
Sowohl im Westen des Landes, z.B. im Verwaltungsbezirk San Marcos (die dortige Mina Marlin in San Miguel Ixtahuacán ist bekannt geworden durch den indigenen Widerstand, unterstützt durch den damaligen örtlichen katholischen Bischof, Alvaro Ramazzini), wie im Südosten, den unsere Reisegruppe erkundete, werden Metallvorkommen ausgebeutet: Gold, Silber und Nickel.
Einher ging der Abbau der Metalle stets mit der Militarisierung des Landes. Die Investitionen in den Bergbau begannen in den Zeiten der Militärdiktaturen und waren stets verbunden mit brutalen Unterdrückungsmaßnahmen gegen Proteste. So wurden einige Akademiker*innen wegen ihres Protestes gegen die Bergbaugesetze erschossen. Auch steht das Massaker von Panzos von 1978, bei dem 53 Menschen ermordet und 47 Menschen verletzt wurden, in einem indirekten Zusammenhang mit dem Bergbau in der näheren Umgebung, denn diese Minen schränkten den Zugang der indigenen Bevölkerung zu eigenem Land weiter ein.
Die Unterdrückung des gewaltfreien Widerstands gegen Bergbauprojekte in Guatemala hat in ihrer Intensität in den vergangenen Jahren leicht abgenommen, aber sie existiert weiterhin. Das ‚beliebteste‘ Mittel ist dabei die Kriminalisierung von Anführer*innen des Widerstands oder ihrer Rechtsbeistände. Ihnen werden konstruierte Verbrechen vorgeworfen. Dies passierte beispielsweise neun Anführer*innen des Widerstands in La Puya zwischen San José del Golfo und San Pedro Ayampuc nordöstlich der Hauptstadt (siehe Teil 2).
Vor diesem Hintergrund werden in den Teilen 2 bis 4 nachfolgend die vier Orte des gewaltfreien Widerstands vorgestellt: La Puya (Verwaltungsbezirk Guatemala), El Estor (Verwaltungsbezirk Izabal), Cerro Blanco (Verwaltungsbezirk Jutiapa) und die Silbermine Escobar in Casillas und Nueva Santa Rosa (Verwaltungsbezirk Santa Rosa), allesamt im südöstlichen Tiefland.
Zum Autor
Stephan Brües, ist Redakteur von gewaltfreie aktion und seit 2009 Redakteur des Guatemala-Nachrichtendienstes ¡Fijáte!.
Er hat 1995 nach fünfmonatiger Feldforschung in Guatemala und Mexiko eine Diplomarbeit über die soziale Bewegung der Rückkehrer*innen von Mexiko nach Guatemala geschrieben. Nach zwei weiteren Reisen dorthin hat er darüber 2010 in dem Aufsatz „Der Quetzal rief … in ein wirtschaftlich prekäres Land. Die Ambivalenz der selbstorganisierten Rückkehr der Flüchtlinge“, in dem von Nikolas Reese und Judith Welkmann herausgegebenen Sammelband „Das Echo der Migration“ reflektiert.
Er nahm zwischen dem 4. und dem 12. Mai 2024 an einer Delegationsreise der US-kanadischen Menschenrechtsorganisation Rights Action teil. Rights Acton unterstützt seit Jahrzehnten den gewaltfreien Widerstand, insbesondere gegen Bergbauprojekte in Guatemala und andere Ländern in Zentralamerika.